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Unwichtig:
Wolken ziehen weiter, -Margot Bickel
Umberto Eco – Der Friedhof in Prag
[JUDEN]: Die Jahre meiner Kindheit waren beherrscht und verdunkelt von ihrem Phantom. Der Großvater beschrieb mir jene lauernden Augen, die einen so falsch ansehen, dass man unwillkürlich erbleicht, jenes schleimige Lächeln, jene hyänengleich über die Zähne zurückgezogen Lippen, jene schweren, verderbten, verrohten Blicke, jene vom Hass eingegrabenen Falten zwischen Nase und Lippen, die niemals zur Ruhe kommen, jene Hakennase gleich dem Schnabel eines exotischen Vogels. Und das Auge, ah, das Auge… Fiebrig rollt es mit seiner Pupille in der Farbe gerösteten Brotes und enthüllt Krankheiten der von den Sekreten eines achtzehn Jahrhunderte währenden Hasses zerfressenen Leber, beugt sich über tausend winzige Runzeln, die mit dem Alter zunehmen, doch schon mit zwanzig Jahren scheint der Jude verwelkt wie ein Greis. Wenn er lächelt, ziehen sich seine dicken Lider zu einem schmalen Schlitz zusammen, was manche für ein Zeichen von Schläue halten, was aber eines von Lüsternheit sei, wie mein Großvater präzisierte… Und als ich groß genug war, um zu verstehen, erklärte er mir, dass der Jude nicht nur eitel ist wie ein Spanier, ignorant, wie ein Kroate, gierig wie ein Levantiner, undankbar wie ein Malteser, unverschämt wie ein Zigeuner, dreckig wie ein Engländer, schmierig wie ein Kalmücke, herrisch wie ein Preuße und lästerlich wie ein Piemontese aus Asti, sondern auch ehebrecherisch aus unbezähmbarer Geilheit – was von der Beschneidung kommt, die sie erektionsfreudiger macht, bei monströser Diskrepanz zwischen der Zwergwüchsigkeit ihres Körperbaus und dem Schwellvermögen dieses ihres halb verstümmelten Auswuchses. Der DEUTSCHE lebt in einem Zustand permanenter Verdauungsbeschwerden wegen seines exzessiven Bierkonsums und jener Schweinswürste, mit denen er sich vollstopft. Ich habe sie gesehen, eines Abends während meiner einzigen Reise nach München, in einer von jenen Schenken, die an profanierte Kathedralen erinnern, verraucht wie ein englischer Hafen, nach Speck und Schweinefett riechend, wie sie da dicht an dicht nebeneinandersitzen, sogar je zwei und zwei, sie und er, die Hände fest um jene Bierhumpen geklammert, die jeder allein den Durst einer Herde Dickhäuter stillen würden, Nase an Nase in einem tierischen Liebesdialog, wie zwei Hunde, die sich beschnuppern, mit ihrem brüllenden Gelächter, ihrer trüben gutturalen Heiterkeit, Gesichter und Leiber glänzend von einem immerwährenden Fett, das sie salbt, wie das Öl die Haut der antiken Gladiatoren. Sie nehmen den Mund voll mit ihrem Geist, was zwar im doppelten Sinne spiritus heißt, aber den Geist des Bieres meint, der sie von Jungend auf verblödet, was erklärt, warum jenseits des Rheins nie etwas Interessantes in der Kunst produziert worden ist, außer ein paar Gemälden mit abstoßenden Fratzen und Gedichten von tödlicher Langeweile. Zu schweigen von ihrer Musik – ich spreche gar nicht von diesem lärmenden und pathetischen Wagner, der jetzt auch die Franzosen so besoffen macht, aber nach dem wenigen was ich gehört habe, sind auch die Kompositionen ihres Bach total unharmonisch und kalt wie eine Winternacht, und die Symphonien dieses Beethoven sind eine Orgie von Ungehörigkeit und Flegelei. Ihr maßloser Bierkonsum macht sie unfähig, sich auch nur die geringste Vorstellung von ihrer Vulgarität zu machen, aber der Gipfel dieser Vulgarität ist, dass sie sich gar nicht schämen, Deutsche zu sein. Sie haben einen verfressenen und lüsternen Mönch wie Luther ernst genommen (kann man im Ernst eine Nonne heiraten?), bloß weil er die Bibel ruiniert hat, indem er sie in ihre Sprache übersetzte. Wer war es noch gleich, der gesagt hat, die Deutschen hätten die beiden großen europäischen Drogen missbraucht, den Alkohol und das Christentum? Sie halten sich für tief weil ihre Sprache unklar ist, ihr fehlt die clarté der französischen Sprache, sie sagt nie exakt das, was sie sollte, so dass kein Deutscher jemals weiß, was er sagen wollte – und dann verwechselt er diese Undeutlichkeit mit Tiefe. Es ist mit den Deutschen wie mit den Frauen, man gelangt bei ihnen nie auf den Grund. Unglücklicherweise hat mein Großvater mich diese ausdruckslose Sprache mit ihren Verben, die man beim Lesen angestrengt mit den Augen suchen muss, weil sie nie das stehen, wo sie sollten, als Kind zu lernen gezwungen, was angesichts seiner Austrophilie kein Wunder war. Und so habe ich diese Sprache hassen gelernt, ebenso wie den Jesuiten, der täglich ins Haus kam, um sie mir mit Stockschlägen auf die Finger beizubringen. Seitdem jener Gobineau über die Ungleichheit der Rassen geschrieben hat, scheint es, wen jemand schlecht über ein anderes Volks spricht, dass er sen eigenes für überlegen hält. Ich habe keine Vorurteile. Seit ich FRANZOSE geworden bin (was ich bereits zur Hälfte durch meine Mutter war), habe ich begriffen, wie sehr meine neuen Landsleute faul, betrügerisch, nachtragend, eifersüchtig und so maßlos eingebildet sind, dass sie alle anderen für Barbaren halten und keinerlei tadel ertragen. Aber ich habe auch begriffen, dass man, um sie dazu zu bringen, einen Makel ihrer Rasse einzuräumen, bloß schlecht über ein anderes Volks zu sprechen braucht, etwa indem man sagt: „Wir Polen haben diesen oder jenen Fehler“, denn da ein Franzose niemals hinter anderen zurückstehen will, nicht einmal im Schlechten, reagiert er sofort mit einem „O nein, wir in Frankreich sind noch schlimmer“, und schon zieht er ausgiebig über seine eigenen Landleute her, bis er merkt, in welche Falle er gegangen ist. Sie lieben ihresgleichen nicht, selbst wenn sie von ihnen profitieren, Niemand ist so ruppig wie ein französischer Gastwirt, der sich benimmt, als hasste er seine Kunden (was er vielleicht auch tut) und als wünschte er sich, sie wären nicht da (was er bestimmt nicht tut, denn der Franzose ist überaus habgierig). Ils grognent toujours – sie grunzen immer. Frag sie was, und du kriegst ein sais pas, moi zu hören, dazu pusten sie durch die Lippen, als würden sie furzen. Sie sind böse. Sie töten aus Langeweile. Sie sind das einzige Volk, das seine Angehörigen jahrelang damit in Atem gehalten hat, sich gegenseitig den Kopf abzuschlagen, und ein Glück, dass Napoleon dann ihre Wut auf andere Rassen umgelenkt hat, indem er sie in Reih und Glied aufstellte und zur Zerstörung Europas aussandte. Sie
sind stolz darauf, einen Staat zu haben, den sie für mächtig halten,
aber sie verbringen ihre ganze Zeit damit, ihn zu Fall zu bringen:
Niemand ist so gut im Barrikadenbauen wie die Franzosen, aus jedem
Anlass und bei jeder Gelegenheit, of t sogar ohne zu wissen warum,
einfach mitgerissen vom Pöbel. Der Franzose weiß nicht recht, was er
will, außer dass er sehr genau weiß, das er nicht will, was er hat. Und
um das zu sagen, fällt ihm nichts anderes ein, als Lieder zu singen. Sie
glauben, dass alle Welt französisch spricht. Vor ein paar Jahren war
das sehr schön zu sehen bei diesem Lucas, einem Genie – dreißigtausend
falsche Dokumente, Autographen auf echtem altem Papier, das er sich
besorgte, indem er die Vorsatzblätter alter Bücher aus der Bibliotéque
Nationale herausschnitt, mit gekonnter Imitation der verschiedenen
Handschriften, wenn auch nicht so gut, wie ich es gekonnt hätte…Ich
weiß nicht, wie viele davon er zu Höchstpreisen an diesen Strohkopf von
Chasles verkauft hatte (ein großer Mathematiker, heißt es, und Mitglied
der Akademie der Wissenschaften, aber ein großer Trottel), Und nicht
nur der, sondern viele seiner Kollegen Akademiker fanden es ganz in
Ordnung, dass Leute wie Caligula, Cleopatra oder Julius Cäsar ihre
Briefe angeblich auf Französisch geschrieben hatten und das auch die
Korrespondenz zwischen Pascal, Newton und Galileo auf Französisch
geschrieben war, obwohl doch jedes Kind weiß, dass die Gelehrten jener
Zeit auf Latein miteinander korrespondierten. Die französischen
Gelehrten hatten keine Ahnung davon, dass andere Völker anders als
französisch sprachen. Inhaltlich stand in den falschen Briefen, dass
Pascal die universale Schwerkraft zwanzig Jahre vor Newton entdeckt
habe, und das genügte, um jene von nationalem Dünkel zerfressenen
Sorbonnarden für alles andere blind zu machen.
Vielleicht kommt diese Ignoranz von ihrem Geiz – dem nationalen Laster, das sie für eine Tugend halten und Sparsamkeit nennen. Nur in Frankreich hat man sich eine ganze Komödie über einen Geizigen ausdenken können. Um nicht von Pére Grandet zu sprechen. Den Geiz sieht man an ihren staubigen Wohnungen, an ihren nie renovierten Tapeten, an ihren Badewannen aus der Zeit ihrer Vorfahren, an ihren engen hölzernen Wendeltreppen, die sie einbauen, um den schmalen Raum pedantisch auszubeuten. Verschneidet, wie man es bei Pflanzen tut, einen Franzosen mit einem Deutschen (womöglich jüdischer Herkunft), und ihr habt, was wir haben: die Dritte Republik… Das ich Franzose geworden bin, lag daran, dass ich es nicht mehr ertragen konnte, ITALIENER
zu sein. Als gebürtiger Piemontese fühlte ich mich wie die Karikatur
eines Galliers, aber mit bornierteren Vorstellungen. Die Piemontesen
schrecken vor jeder Neuerung zurück, alles Unerwartete macht ihnen
Angst, um sie bis nach Sizilien zu treiben – dabei waren unter den
Garibaldinern nur sehr wenige Piemontesen – brauchte s zwei Ligurier,
einen Schwärmer wie Garibaldi und einen Unglücksbringer wie Mazzini.
Und reden wir nicht von dem, was ich entdeckt hatte, als ich nach
Palermo geschickt worden war (wann ist das gewesen? Ich muss es
rekonstruieren). Nur dieser eitle Pfau Dumas liebte jene Völker,
vielleicht weil sie ihn mehr verehrten als die Franzosen, die ihn immer
noch als einen Mischling ansahen. Er gefiel den Sizilianern und
Neapolitanern, die selber so etwas wie Mulatten waren, nicht wegen des
Fehltritts einer einzelnen liederlichen Mutter, sondern aufgrund der
Geschichte von Generationen, Ergebnis der Kreuzung von zwielichtigen
Lavantinern, verschwitzten Arabern und degenerierten Ostgoten, die
jeder das Schlechteste von ihren hybriden Vorfahren mitgebracht hatten,
von den Sarazenen die Trägheit, von den Schwaben die Wildheit, von den
Griechen die Inkonsequenz und die Gewohnheit, sich in endlose Palaver
zu verlieren, bis ein Haar in vier Teile gespalten war. Im übrigen
braucht man bloß die Gassenjungen in Neapel zu sehen, wie sie die
Fremden betören, indem sie sich mit Spaghetti strangulieren, die sie
sich mit den Fingern in die Gurgel stopfen, wobei sie sich mit
verdorbener Tomatensoße bekleckern. Ich habe es nicht mit eigenen Augen
gesehen, glaube ich, aber ich weiß es.
Der Italiener ist treulos, verlogen, feige, verräterisch, ihm liegt der Dolch mehr als der Degen, das Gift mehr als das Medikament, er ist glatt wie ein Aal beim Verhandeln und kohärent nur im Seitenwechsel bei jeder Drehung des Windes – ich habe gesehen, wie es den bourbonischen Generälen ergangen ist, kaum dass die Abenteurer Garibaldis und die piemontesischen Generäle aufgetaucht waren. Es liegt daran , dass die Italiener sich immer am Vorbild der Priester orientieren, der einzigen echten Regierung, die sie je hatten, seit dieser perverse letzte römische Kaiser von den Barbaren sodomisiert worden war, weil das Christentum den Stolz der antiken Rasse gebrochen hatte. Die PRIESTER
… Wie habe ich sie kennengelernt? Im Hause des Großvaters, glaube ich,
ich erinnere mich dunkel an flüchtige ‚Blicke, schlechte Zähne,
schweren Atem, schwitzende Hände, die mich im Nacken zu streicheln
versuchten. Ekelhaft. Als Müßiggänger gehören sie zu den gefährlichen
Klassen, wie die Diebe und die Vagabunden. Priester oder Mönch wird man
nur, um im Müßiggang leben zu können, und den Müßiggang garantiert
ihnen ihre Anzahl. Wären die Priester nur, sagen wir, einer auf tausend
Seelen, dann hätten sie so viel zu tun, dass sie nicht auf der faulen
Haut liegen und Kapaune schmausen könnten. Und von den faulsten
Priestern sucht sich die Regierung immer die dümmsten aus und ernennt
sie zu Bischöfen.
Man hat sie ständig um sich, sobald man auf die Welt gekommen ist und getauft wird, man trifft sie in der Schule wieder, wenn man Eltern hat, die bigott genug sind, ihnen ihre Kinder anzuvertrauen, dann kommt die erste Kommunion und der Katechismus und die Firmung; den Priester hat man am Hochzeitstag vor sich, wenn er einem sagt, was man im Schlafzimmer tun soll, und am Tag danach in der Beichte, wenn er fragt, wie oft man es getrieben hat, um sich hinter seinem Gitter daran erregen zu können. Sie sprechen voller Abscheu vom Sex, aber jeden Tag sieht man sie aus einem inzestuösen Bett aufstehen, ohne sich auch nur die Hände gewaschen zu haben, und so gehen sie ihren Herrn essen und trinken, um ihn dann später zu kacken und zu pissen. Sie sagen andauernd, dass ihr Reich nicht von dieser Welt sei, und nehmen sich alles, was sie nur raffen können. Die Zivilisatin wird nicht vollendet sein, solange nicht der letzte Stein der letzten Kirche den letzten Priester erschlagen hat und die Erde frei ist von diesem Gezücht. Die KOMMUNISTEN haben den Gedanken verbreitet, dass die Religion das Opium des Volkes sei. Das stimmt, denn sie dient dazu, die Versuchungen der Untertanten zu zügeln, und wenn es die Religion nicht gäbe, wären doppelt so viele Menschen auf den Barrikaden, während es in den Tagen der Kommune zu wenige waren, so dass man sie ohne viel Mühe erledigen konnte. Aber nachdem ich diesen österreichischen Doktor über die Vorteile der kolumbianischen Droge habe reden hören, würde ich sagen, dass die Religion auch das Kokain der Völker ist, denn sie treibt die Völker seit jeher zu Kriegen und Massakern an Ungläubigen, und das gilt für Christen, Muselmänner und andere Götzenanbeter, und während die Neger i Afrika sich damit begnügten, einander gegenseitig zu massakrieren, haben die Missionare sie bekehrt und zu Kolonialsoldaten gemacht, die bestens geeignet sind, an vorderster Front zu sterben und die weißen Frauen zu vergewaltigen, wenn sie in eine Stadt kommen. Die Menschen tun das Böse nie so vollständig und begeistert, wie wenn sie es aus religiöser Überzeugung tun. Am schlimmsten von allen sind sicher die JESUITEN. Ich habe irgendwie das Gefühl, ihnen ein paar Streiche gespielt zu haben, oder vielleicht waren sie es, die mir etwas angetan haben, ich erinnere mich nicht mehr genau. Vielleicht waren es auch ihre leiblichen Brüder, die Freimaurer. Die Freimaurer sind wie die Jesuiten, nur ein bisschen konfuser, Diese haben wenigstens eine eigene Theologie und wissen sie zu gebrauchen, jene haben zu viele davon und verlieren leicht die Übersicht. Von den Freimaurern hat mir mein Großvater erzählt. Zusammen mit den Juden haben sie dem französischen König den Kopf abgeschlagen. Und in Italien haben sie die Carbonari hervorgebracht, die ein bisschen dümmere Freimaurer waren, denn mal ließen sie sich füsilieren und mal ließen sie sich enthaupten, weil sie es nicht geschafft hatten, eine funktionierende Bombe zu bauen, oder sie wurden zu Sozialisten, Kommunisten und Kommunarden. Alle an die Wand. Gut gemacht, Monsieur Thiers! Freimaurer und Jesuiten. Die Jesuiten sind Freimaurer in Frauenkleidern. Ja, ja , ich habe den Doktor Tissot gelesen, ich weiß, dass sie auch von weitem Schaden anrichten. Wir wissen nicht, ob die animalischen Säfte und die Genitalflüssigkeit dasselbe sind, aber bestimmt haben diese beiden Liquide eine gewisse Ähnlichkeit, nd nach langen nächtlichen Ergüssen schwinden einem nicht nur die Kräfte, sondern der Leib magert ab, das Gesicht wird blass, das Gedächtnis lässt nach, die Sicht verschwimmt, die Stimme wird rauh, der Schlaf wird von unruhigen Träumen geplagt, man bekommt Augenschmerzen und rote Flecken im Gesicht, manche spucken kalkweißes zeug, bekommen Herzklopfen, Erstickungs- und Ohnmachtsanfälle, andere klagen über Verstopfung oder immer dünneren Durchfall, Und schließlich erblindet man. Lauschen heißt nicht, etwas Bestimmtes erfahren zu wollen. Alles, auch das scheinbar Belanglose, kann sich eines Tages als nützlich erweisen. Worauf es ankommt, ist, etwas zu wissen, von dem die anderen nicht wissen, dass man es weiß. Die nationale Identität ist die letzte Ressource der Entrechteten und Enterbten. Doch das Identitätsgefühl gründet sich auf den Hass, Hass auf den, der nicht mit einem identisch ist. Daher muss man den Hass als zivile Leidenschaft kultivieren. Der Feind ist der Freund der Völker. Man braucht immer jemanden zum Hassen, um sich im eigenen Elend gerechtfertigt zu fühlen. Hass ist die wahre Ur-Leidenschaft. Man kann nicht jemanden das ganze Leben lang lieben, aus dieser unmöglichen Hoffnung entstehen Ehebrauch, Muttermord, Freundesverrat…Dagegen kann man jemanden sehr wohl das ganze Leben lang hassen. Vorausgesetzt, er ist immer da, um unseren Hass zu schüren. Hass wärmt das Herz.“
Ich darf nicht schlafen - S. I. Watson –
„Ich hatte alles klar vor Augen. Die Hand auf der Schulter, dann die Umarmung. Die Lippen, die einander durch die Tränen finden, den Augenblick, in dem Schuldgefühle und die Gewissheit, dass es nicht weitergehen darf, dem Verlangen und der Gewissheit weichen, dass es kein Halten mehr gibt.
Madame Hemingway – Paula McLain
Was zählte, war nicht, was Frankreich uns gab. Sondern was es uns am Ende übrigließ. Nun war Sommer, und das Ganze wurde immer unmöglicher. Er konnte und wollte sich ein Leben ohne Hadley nicht vorstellen, aber Pfife wand sich immer enger um sein Herz. Sie verwendete schon das Wort „Ehe“ und meinte es immer ernster. Er
wollte sie beide, aber man konnte nicht alles haben, und die Liebe half
ihm nun auch nicht weiter. Nichts konnte ihm helfen außer seinem Mut,
aber was war eigentlich mutig? Nach der Pistole zu greifen oder den
Schmerz und das Zittern und die schreckliche Angst auszuhalten? Er
wusste es nicht mit Sicherheit, doch nach dieser ersten Waffe hatte er
noch nach vielen weiteren gegriffen. Wenn die Zeit gekommen war, würde
er ein Gewehr nehmen und ganz einfach mit seinem nackten Zeh abdrücken.
Er wollte es nicht tun, aber wenn es zu schlimm wurde – wenn es
wirklich richtig schlimm wurde -, dann war Selbstmord immer zulässig.
Erbarmen - Jussi Adler Olsen -
Der verschwindet wieder, Merete, redete sie sich ein. Du musst dich nur erst an den Druck gewöhnen. Warte nur, morgen, wenn du aufwachst, ist er weg. Dann ist er weg, versprach sie sich selbst. Aber Versprechen, die aus Unwissenheit gegeben werden, sorgen stets für Enttäuschungen.
Sterblich – Thomas Enger -
Es
kam, wie es kommen musst; wenig Schlaf, kaum Zerstreuungen, ein
minimales Vertändnis für die Bedürfnissse des anderen, sowohl zu Hause
als auch bei der Arbeit. Sie stritten immer häufiger und hatten immer
weniger Zeit und energie, einfch nur zusammen zu sein. Zum Schluss
hatten sie beide keine Kraft mehr.
Eltern. Das Schönste und Schlimmste, was man als Mensch sein kann. Die nächsten fünf Minuten hält er einen Monolog. Er verfolgt damit ganz bewusst eine bestimmte Strategie. Zum einen ist es immer gut, sich mit anderen auszutauschen. Oft kriegen Gedanken einen etwas anderen Blickwinkel, wenn man sie laut ausspricht. Ähnlich wie mit Söätzen, die man schreibt. Man weiß nie, ob die Sätze auch wirklich funktionieren, bevor man sie nicht laut gelesen hat. Wer dem Tode geweiht – Elizabeth George -
Gordon war Frauen gegenüber
nicht immun, und ihm fiel auf, dass sie einen anmutigen Gang hatte.Aber
es regte sich nichts in ihm, weder im Herzen, noch im Schritt, und
darüber war er froh. Er hielt sich lieber fern von Frauen.
Er suchte sich eine bequemere Sitzposition. Er saß breitbeinig da, bemerkte Barbara; die Sorte Typ, der gern das Familiensilber zur Schau stellte. „Sie hatte eine Affäre mit einer Frau.“ „Das kann ich ihr nicht verdenken. Der Typ würde Eva dazu bringen, dass sie Adam für die Schlange sitzen lässt.“ […] „Ich habe kein Mitleid mit ihm.“ „Das ist verständlich. Aber manchmal ist es gut, solche Dinge zu wissen, und ich bezweifle, dass es in seiner Akte steht.“ „Sie haben Recht. Tut es nicht. Glauben Sie, wir haben etwas gemeinsam, Johan Stewart und ich?“ „Bei Menschen, die einander bekämpfen, ist das häufig der Fall.“ […] Wenn man über einen Fall redet, kommt man manchmal auf Dinge, die man vorher nicht bedacht hat. Streiten kann denselben Effekt haben.“
"Angst" – Robert Harris –
Der verlässlichste Wegweiser in die Zukunft ist die Vergangenheit.
"Marina" - Carlos Ruiz Zafón
"Splitter" - Sebastian Fitzek
"Sicher, wir gehen extreme Wege. Aber wer immer nur die ausgetretenen Pfade marschiert, wird nie eine neue Welt entdecken können." Das, woraus ein Mensch seine stärkste Kraft schöpft, ist zugleich seine empfindlichste Schwachstelle - seine Familie. Nicht ohne Grund ist es in Teilen der Mafia üblich, nicht den Feind selbst zu töten, sondern all die, die dem Verräter etwas bedeuten: seine Eltern, Freunde, die Ehefrau und natürlich die Kinder. Vor alle die Kinder , sie sind die Achillesferse eines Mannes.
Die Macht der Habsburger - Geoepoche
Die Bourgogne, das Stammland der Burgunder, fiel dabei allerdings an Frankreich. Maximilian musste sich mit dem Rest begnügen. Ihm blieben vor allem die reichen Niederlande. Der Kaiser suchte später seinem Enkel Karl einzuschärfen, dass die Franzosen die "alten und natürlichen Feinde" des Hauses Habsburg sind - ein Gedanke, den Karl verinnerlichen wird. Im Januar 1516 stirbt Ferdinand von Aragón, und der knapp 16-jährige Karl tritt nun auch in Spanien sein Erbe an. Der junge Herrscher (Karl V.) wirkt bei der Ankunft in seinem neuen Reich, das er nie zuvor betreten hat und dessen Sprache er kaum beherrscht, steif und unsicher. Am 22. Oktober 1520 zieht Karl in Aachen ein. Im gesamten Reich wird er mit Jubel und Freudenfeuern empfangen - ganz im Gegensatz zu seiner Ankunft ein paar Jahre zuvor in Spanien. Die Propaganda, die noch sein Großvater Maximilian zugunsten seines Enkels in Gang gesetzt hatte, zeigt nun ihre Wirkung im Reich. Auch wenn er kaum ein Wort Deutsch spricht, wird Karl als Patriot gefeiert, der die Franzosen und den Papst ind ie Schranken weisen werde.
"Meineid" - Petra Hammesfahr
Einige Wochen quälte ich mich mit dem
Bewusstsein, dass Tess die Frau war, von der ich bis dahin nicht einmal
hatte träumen können, weil ich nicht gewusst hatte, dass es solch eine
Frau gab. Tess war wie einer der exotischen Falter, die mein Großvater mit
Hingabe gesammelt und bewundert hatte. Sie war eine Fahrt auf der
Achterbahn. Und mir kam nicht der Gedanke, dass man die Falter nur
aufgespießt hinter Glas betrachten und nicht ein Leben lang Achterbahn
fahren kann. Dass man nach zwei oder drei Fahrten dankbar ist für den
festen Boden unter den Füßen. Tess, das war Verliebtheit, ein Anfall von hohem Fieber. Von Zeit zu Zeit verhinderte es einen Abend lang, das man klar denkt. Ich will nicht leugnen, dass mich das Fieber gelegentlich noch ein wenig geschüttelt hatte. Wenn ich einen Abend mit Tess verbrachte, prickelte es im Magen. Das tut es immer, wenn man Achterbahn fährt. Vielleicht hätte ich Tess tatsächlich für mich gewinnen können während ihrer Schwangerschaft. Aber man lernt mit den Jahren, die Fieberanfälle zu fürchten. Ich mochte Tess, ich liebte sie sogar in gewisser Weise und hätte eine Menge für sie getan. Aber mit ihr leben wollte ich schon lange nicht mehr. Ich war kein Hellseher, ich war nur rasend eifersüchtig. Und wenn es zutrifft, dass Liebe blind macht, mag Eifersucht zu besonderer Scharfsichtigkeit führen. Mir fielen schon früh ein paar Besonderheiten in Jan Tinners Verhalten auf, die zur Vorsicht mahnten. Nur war es unmöglich mit Greta offen darüber zu sprechen. Du irrst dich Niklas. Aus Träumen erwacht man und trauert ihnen nur kurz hinterher. Jan war nie mein Traum. Jan ist..." Und Jan wollte sie zeigen, was sie sich unter einem erfüllten Eheleben vorstellte. Das Schlafzimmer balancierte auf einem schmalen Grat zwischen nächtlicher Bequemlichkeit und sinnlichem Versprechen. "Du redest schon wie mein Bruder", murrte Tess. Also war Greta nicht die Einzige, die ihr begreiflich machen wollte, dass man Geld nicht zum Fenster hinauswerfen konnte. Bestimmt nicht, wenn andere es verdienen müssen.
Aber er könne niemandem wehtun. Und davon war
Greta nicht nur überzeugt, weil sie ihn liebte. Was interessierten sie die
alten Sprüche: Liebe macht blind. Nicht jeden! den einen machte sie
hilflos, den anderen aufmerksam. Mich mache sie verrückt, meinte Greta. Ich konnte Greta nicht hergeben, um keinen Preis der Welt.- Es heißt nicht umsonst, dass jeder Mensch fähig ist zu töten, dass es nur auf die Situation ankommt. Ich wusste, dass ich es konnte,. Ich musste mir nur vorstellen, dass Jan seine Hände nach ihr ausstreckte! Und das tat ich unentwegt.
Und dann wollte ich sagen: "Wenn du genug von
ihm hast, du weißt ja, wo du mich findest." Nie im Leben werde ich vergessen, wie sie da oben mit Jan auf der Treppe saß, ihn mit beiden Armen umschlungen hielt. Man mag sich noch so viele schöne Worte zurechtlegen, meist durchkreuzen die eigenen Gefühle sämtliche nüchternen Pläne. ...
"Napoleon - Stratege und Staatsmann" - Vincent Cronin
Napoleon fühlte sich , wie er später einem Freund gestand, recht oft zu Männern hingezogen, und eben weil er h9mosexuelle Neigungen an sich selbst bemerkt hatte, war er so eifrig auf ihre Unterdrückung bedacht. "Das Volk kann das Lebensnotwendige nur bekommen, wenn sich die Fürsten versagen, was überflüssig ist." Die Vernunft ist es, die echtes Gefühl von blinder Leidenschaft zu unterscheiden, vermag, die Vernunft ist es, die die Gesellschaft am Leben erhält, die Vernunft, die natürliche Gefühle erzeugt und wachsen lässt. "Das Christentum zählt Napoleon nicht zu den Faktoren, die zum Glück verhelfen, und darin ist er ganz Kind seiner Zeit. Das Christentum, schreib er in seinen Aufzeichnungen, "erklärt, sein Reich sei nicht von dieser Welt; wie kann es also Liebe zum Geburtsland wecken, wie kann es andere Gefühle einflößen als Skepsis, Gleichgültigkeit und Kälte gegenüber den menschlichen Angelegenheiten und der Regierung?" Robespierre zufolge war "Milde barbarisch". Napoleon schwang sich aufs Pferd und führte seine 2000 Mann durch den peitschenden Regen gegen das Fort. Beinahe augenblicklich wurde sein Pferd unter ihm weggeschossen. Er ging zu Fußweiter. Er war ruhig und gefasst. "Wenn deine Stunde geschlagen hat, ist jede Sorge überflüssig", lautete sein Wahlspruch.
Pauline, die Napoleon dem Temperament nach am
nächsten stand, war mit sechzehn Jahren in Stanislas Fréron verliebt und
schrieb ihm Briefe wie diesen. "Ti amo sempre passionatissimamente, per
sempre ti amo, ti amo, stell'idol mio, sei cuore mio, tenero amico, ti amo,
ti amo, amo, si, amatissimo amante." Auch Napoleon sollte
passionatissimamente lieben, aber bis dahin hatte es noch ein wenig Zeit. Wie man es von Napoleon erwarten würde: er zieht einen sauberen Tod einem unaufrichtigen Leben vor. Die Abwesenheit heilt kleine Leidenscchaften, aber sie vermhrt die großen." Napoleons Kopfgröße war durchschnittlich. Nach den heutigen Konfektionsgrößen würde er einen Hut der Nummer 57 gebraucht haben. Sei Kopf wirkte jedoch groß, weil der Hals kurz war. Seine Füße waren klein, nicht länger als 26 cm, das heißt, er hatte - nach dem heutigen Maß - die Schuhnummer 39. Auch seine Hände waren klein und schön geformt; die Finger wurden nach vorn zu schmäler und hatten schöne Nägel. Klein waren auch Penis und Hoden.
Vor seinen Kammerdiener ist niemand ein Held,
sagt man allgemein, aber Napoleon vermochte nicht nur die Achtung, sondern
auch die Zuneigung zweier Kammerdiener zu erringen: zuerst Constants und
später Marchands.
Mit diesen rein militärischen Erinnerungsstücken
gab er sich aber nicht zufrieden. Er schlug dem Staatsrat 1802 einen Orden
vor, den sich alle Franzosen, also auch die Zivilisten verdienen konnten.
Einer der Räte protestierte gegen solchen "Tand" - "Tand?" antwortete
Napoleon, der dabei vielleicht an die Verleihung von Regimentsfahnen in
Italien dachte. "Mit solchem Tand führt man Männer in den Kampf...
Voltaire nannte die Soldaten 'lauter Alexanders zu fünf Sous pro Tag'. Er
hatte recht. Glauben Sie, man kann eine feindliche Armee nur mit
Schlachtplänen schlagen? Niemals! In den Republiken haben die Soldaten
dann große Taten vollbracht, wenn sie vor allem von ihrem Ehrgefühl
geleitet wurden. Ebenso verhielt es sich unter Ludwig XIV. ... Ich will
nicht behaupten, dass ein Orden die Republik retten kann, aber er kann uns
sehr helfen." Pius exkommunizierte Napoleon, weil er Rom und den Kirchenstaat in Besitz genommen hatte. In Napoleons Augen war das eine unlogische und ungerechte Verwechslung von geistlicher und weltlicher Macht.. "Der Papst ist ein gefährlicher Marodeur, der eingesperrt gehört", erklärte er. "Der Franzose lebt unter einem klaren Himmel, trinkt einen Prickelnden wein und isst eine Nahrung, die seine Sinne stets 2wachhält. Unser Engländer dagegen lebt auf feuchtem Boden unter fast kalter Sonne, trinkt Bier oder Porter und isst Butter nd Käse in Mengen. Mit solch anderen Elementen im Blut hat er natürlich auch einen anderen Charakter. Der Franzose ist eitel, leichtsinnig und kühn und liebt über alles auf der Welt die Gleichheit... Der Engländer dagegen ist eher stolz als eitel .... er ist weit mehr darauf bedacht, seine eigenen Rechte zu wahren, als darauf, die anderer zu verletzen ... Was für eine Torheit wäre also der Traum, zwei so verschiedenen Völkern die gleichen politischen Institutionen zu geben!" "Lieber ein offener Feind als ein zweifelhafter Verbündeter", stellte Napoleon philosophisch fest. In Paris erklärte Metternichs Kumpan und gekaufter Komplize Taulleyrand der Madame de La Tour du Pin, dass Napoleon erledigt sei. Wo endet die Ehre, wo begann das Unmögliche? "Die Schwelle zum Unmöglichen liegt für jeden woanders", hatte er einmal zu Molé gesagt. "Für die Ängstlichen ist 'das Unmögliche' ein Gespenst, für Feiglinge eine Zuflucht. Im Munde der Mächtigen, glauben Sie mir, ist das Wort nur ein Eingeständnis ihrer Ohnmacht."
"Verwesung" - Simon Beckett
Die meisten Leute haben eine Abstellkammer in der sie alte Möbel und Habseligkeiten verstauen und vergessen, anstatt sie wegzuwerfen. Man kann seine Gefühle für einen anderen Menschen nicht einfach ausschalten, auch wenn er diese Gefühle nicht verdient.
"Die Champagner-Diät" - Hera Lind Eva braucht nicht lange, um zu begreifen, dass Männer innere Werte nur bis Kleidergröße 36 spannend finden. Aber zum Glück sind Computer genauso blind wie die Männer. So testet Eva im Chatroom ihre Marktchancen und schlüpft erst aus Verzweiflung und dann aus purer Lebenslust in eine andere Haut. Es hat einen unvergleichlichen Reiz, sich nicht zu kennen und sich dennoch so nah zu sein. Was mich irritiert und gleichzeitig beglückt, ist diese unglaublich zeitlose Geborgenheit, die ich mit dir empfinde. Sie ist noch viel tiefer als die Leidenschaft, der wir uns situationsbedingt (noch?) nicht wirklich hingeben.
Freilich, das Mögliche in der Vergangenheitsform ist das Vergebliche
"Todesstoss" - Karen Rose
Er hatte sich anerboten, als ihr Studienbetreuer zu fungieren, weil ihn angeblich das Thema ihrer Diplomarbeit interessierte. Vor allem aber war es zur Veröffentlichung geeignet, was in der akademischen Welt, die nach dem Motto "Publizieren oder krepieren" funktionierte, ein schlagkräftiges Argument war. Man munkelte dass Donner es nötig hatte. Sein Name war seit langem schon in keinem wichtigen Fachblatt mehr erschienen. Angst ist eine interessante Sache", sagte er, und sie riss sich vom Anblick seiner Kleidung los und sah ihm wieder ins Gesicht. Er lächelte, und seine Augen waren kalt und grausam. [...] Manche Ängste entstammen einem Instinkt, wie die Angst vor Schlangen. Sie stehe für ein erhöhtes Gefahrenbewusstsein. Aber wenn die Angst unser Handeln bestimmt, wird sie zu einer Phobie. Du, Rachel, hast eine starke Phobie. Aber eine verständliche, betrachte man deine bisherige Lebensgeschichte.
"Der alte König in seinem Exil" - Arno Geiger
In Russland gibt es ein Sprichwort, dass nichts im Leben wiederkehrt außer unseren Fehlern. Und im Alter verstärken sie sich. Da der Vater schon immer einen Hang zum Eigenbrötlerischen hatte, erklärten wir uns seine bald nach der Pensionierung auftretenden Aussetzer damit, das er jetzt Anstalten machte, jegliches Interesse an seiner Umwelt zu verlieren. Sein Verhalten erschien typisch für ihn. Also gingen wir ihm etliche Jahre mit Beschwörungen auf die Nerven, ers olle sich zusammenreißen. Heute befällt mich ein stiller Zorn über diese Vergeudung von Kräften; denn wir schimpften mit der Person und meinten die Krankheit. "Lass dich bitte nicht so gehen!", sagten wir hundertmal, und der Vater nahm es hin, geduldig und nach dem Motto, dass man es am leichtesten hat, wenn man rechtzeitig resigniert. Er wollte dem Vergessen nicht trotzdem, verwendete nie auch nur die geringsten Gedächtnisstützen und lief daher auch nicht Gefahr, sich zu beklagen, jemand mache Knoten in seine Taschentücher. Es macht einen Unterschied, ob man aufgibt, weil man nicht mehr will, oder weil man weiß, dass man geschlagen ist. Am Anfang waren diese Anpassungsmaßnahmen schmerzhaft und kräftezehrend. Weil man als Kind seine Eltern für stark hält und glaubt, dass sie den Zumutungen des Lebens standhaft entgegentreten, sieht man ihnen die allmählich sichtbar werdenden Schwächen sehr viel schwerer nach als anderen Menschen. Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb der Grenzen seiner geistigen Verfassung, jenseits unserer auf Sachlichkeit und Zielstrebigkeit ausgelegten Gesellschaft, ist er noch immer ein beachtlicher Mensch, und wenn auch nach allgemeinen Maßstäben nicht immer ganz vernünftig, so doch irgendwie brillant. Und einmal, als ich ihn frage, wie es ihm gehe, antwortet er: "Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen." Oft heißt es, an Demenz erkrankte Menschen seien wie kleine Kinder - kaum ein Text zum Thema, der auf diese Metapher verzichtet; und das ist ärgerlich. Denn ein erwachsener Mensch kann sich unmöglich zu einem Kind zurückentwickeln, da es zum Wesen des Kindes gehört, dass es sich nach vorne entwickelt. Kinder erwerben Fähigkeiten, Demenzkranke verlieren Fähigkeiten. Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verlust. Die Wahrheit ist, dass Alter gibt nichts zurück, es ist eine Rutschbahn, und eine der größeren Sorgen, die einem das Alter machen kann, ist die, dass es gar zu lange dauert.
Wie geht es dir, Papa?
Was denkst du über das Vergehen der Zeit? Erst viel später entwickelte ich ein Verständnis dafür, dass den Weigerungen des Vaters ein Trauma zugrunde lag und dass die Dinge im Herzen kein Ende nehmen und dass das Verhalten des Vaters in der Familie deshalb so aussah, wie es aussah. All die vielen Vorkehrungen, die ihm helfen sollten, sich nie wieder gefährden zu müssen. Mein Vater hatte all dies vergessen, und es schmerzte ihn nicht mehr. Er hatte seine Erinnerungen in Charakter umgemünzt, und der Charakter war ihm geblieben. Die Erfahrungen, die ihn geprägt hatten, taten weiterhin ihre Wirkung.
Was der Verstand beim Eingehen der Ehe zu
wenig leistet, muss er während der ehe gewöhnlich mit Wucherzinsen
nachzahlen. Es war die perfekte Dissonanz der Lebensträume, bis auf den Wunsch, zu heiraten und Kinder zu kriegen. Ansonsten gestaltete sich das Zusammenleben Tag für Tag, als würden auf dem Turm zu Babel zwei Menschen verzweifelt aufeinander einreden und jeder in seiner eigenen Sprache sagen: Du verstehst mich nicht.! Vieles im alltäglichen Umgang war eine Frage der Technik. Die Ansprüche, die an uns gestellt wurden, waren ausgesprochen komplex, und so traurig es für meinen Vater war, dass sein Gehirn abbaute, für seine Angehörigen galt, dass Widrigkeiten den Verstand schärfen. Gespräche mit ihm waren eine gute Gymnastik gegen das eigene Einrosten. sie erforderten ein beträchtliches Maß an Einfühlungsvermögen und Phantasie, denn im besten Fall gelang es durch ein richtiges Wort und eine richtige Geste, die Unruhe für einige Zeit zu beseitigen. Felix Hartlauf hat in einem anderen Zusammenhang gesagt: Eigentlich kann man hier nur als staatlich geprüfter Seiltänzer bestehen. Auch das Eingestehen einer Niederlage kann ein Erfolg sein. es brachte nichts, wenn die anderen Familienmitglieder auf der Strecke blieben. Die obersten Regionen des Hauses hatten wir noch gar nicht angetastet, und auch im Keller stapelte sich weiterhin Zeug, das als möglicherweise nützlich für spätere Zeiten gehortet, mit der Zeit jedoch vollends nutzlos geworden war. Sosehr die Menschen am Leben hängen: Wenn sie finden dass ein Leben nicht mehr ausreichend Lebensqualität bietet, kann das Sterben plötzlich nicht schnell genug gehen. Dann wird das Thema Sterbehilfe aufgebracht von Angehörigen, die besser daran täten, über die eigene Unfähigkeit nachzudenken, mit der veränderten Situation umzugehen. die Frage ist: Will man den Kranken von der Krankheit befreien oder sich selbst von der Hilflosigkeit? Oft ist es, als wisse r nichts und verstehe alles. Gerade in Familien- und Paarbeziehungen kennt man Gefühle mit verdrechselten Lebensläufen - gewunden wie Korkenzieher. Ein Mangel an Möglichkeiten hat manchmal etwas Befreiendes. Ich stelle es mir vor wie das Warten an einer kleinen Bahnstation in Sibirien, kilometerweit abseits der nächsten Siedlung, man sitzt und knackt Sonnenblumenkerne. Irgendwann kommt bestimmt ein Zug. Irgendwann wird etwas passieren. Bestimmt.
"Am Anfang war der Tod" - Stefanie Baumm
Der Tod strich um ihn.
Es waren lediglich Geister, die ihn quälten. Er
würde sich ihnen nicht ergeben. jetzt nicht mehr. Während sie das Gebälk auf Holzwürmer untersuchten und überlegten, wie Feuchtigkeit und schimmel aus den alten Mauern zu vertrieben wären, war seine Mutter gestorben. An dem, was sein Vater ihr in seiner rasenden Eifersucht zugefügt hatte. heute wusste er, dass sein Verhalten nicht unbegründet gewesen war. Seine schöne, zerbrechliche Mutter hatte der Versuchung nicht widerstehen können, war eine Gefangene ihrer eigenen Leidenschaft gewesen. Doch auch mit diesem Wissen konnte er seinem Vater nicht verzeihen. Er fühlte noch immer keine Trauer. Zwischen ihm und dem alten Mann hatte weitaus mehr gestanden als der unbeachtete Tod seiner Mutter. Ereignisse, die ebenso tiefe Narben hinterlassen hatten und keinen Platz fr Trauer zul8ießen. Was er am meisten gehasst hatte auf dieser Welt, war fort. Für immer. Zurück blieb nur eine seltsame Leere. Und ein der Verwesung preisgegebener Körper.
"Die Zeit heilt" - heißt es oft -
Zeit überprüft den Kummer - Sie hatte immer gehofft, dass er irgendwann akzeptieren würde, dass ihr Beruf mehr für sie war als schlichter Broterwerb. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte ihn ihre Unabhängigkeit noch fasziniert. Aber in achtzehn Jahren Alltag nutzte sich Faszination auf die Dauer ab. Wenn die Jungen nicht wären....
Sie betrachtete erst die aufgeworfene Erde, dann
ihn, und ihm war, als bräche dieser Blick durch alle Barrieren, die er in
den vergangenen Jahren aufgebaut hatte. Auch ihre Worte trafen ihn tief
bis ins Mark: "Nur die Toten vergessen", sagte sie leise, und trotz
der Sonne, die warm durch das Geäst des umgestürzten Baumes fiel, war ihm
plötzlich kalt. So kalt wie in jener Nach, als es passiert war. Er nahm
einen Schluck von dem bitteren Tee und umschloss den Becher mit beiden
Händen: Er stellte sein Motorrad ab und ging auf das Hau zu, versuchte, sich die verlorene Geborgenheit ins Gedächtnis zurückzurufen, die mit den Jahren verblasst und zu einem fernen Traum geworden war, zu einer vagen Vorstellung, wie es gewesen war, wenn es gut war. Eine flüchtige Wiederbelebung dieses Traums von Geborgenheit hatte er mit Sylvie erlebt. Eine zu glückliche zeit, um von Dauer sein zu können. Er hatte sich in dem vergangenen Jahr oft gefragt, ob es Bestand gehabt hätte, wenn sie überlebt hätte. Oder ob sich das Glück aufgebraucht, an Glanz verloren hätte im Laufe der zeit. Zerschlissen in der alltäglichen Wiederholung. In ihren Träumen durchlebte sie erneut die Ereignisse der vergangenen Tage, und ihr Unterbewusstsein, befreit von seinen Fesseln, führte sie auf Pfade, auf die sie in wachem Zustand keinen Fuß gesetzt hätte. In den frühen Morgenstunden wachte sie plötzlich auf mit dem sicheren Gefühl, der Lösung ganz nah zu sein, doch als sie danach greifen wollte, entzog sie sich ihr, verschwand sie indem Maße, wie ihr Bewusstsein wieder Besitz von ihr ergriff. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte er mit keinem Menschen über diese Gefühle geredet. Bis gestern. Als er Andi in der Küche des Pfarrhauses gegenübergesessen hatte, waren die Mauern wie von selbst geborsten, die er unter so viel Schmerzen gebaut und die ihn sogar Sylvie gekostet hatten. Andi war über die Trümmer gestiegen und hatte schweigend zugehört. "Vielleicht ist es gut, dass es genauso gekommen ist. Dass du jetzt hier bist..." hatte er schließlich gesagt und ihn aus diesen dunkeln Augen angesehen, die Leif noch immer so vertraut waren und deren Anblick ihn so sehr an ihre einzigartige Zusammengehörigkeit erinnerte, die niemand hatte zerstören können, die sie alle Wünsche und Geheimnisse hatte teilen lassen, sogar die Freundin. Andi hatte seiner Mutter ebenso wenig verzeihen können wie Leif seinem Vater, und Leif wusste, wie es sich anfühlte, wenn sich der Tod in dieses Verhältnis einmischte. Wie schwer es plötzlich war, diese Endgültigkeit zu akzeptieren. Er hatte es selbst erst vor wenigen Tagen erlebt. Harms bemerkte seine Irritation und grinste. "Manchmal sollte man seine Vorurteile neu gruppieren", raunte er ihm zu, während Stahl noch die Hand des Mannes schüttelte. "Nimmt dein Mann Rücksicht auf dich, wenn er Karriereentscheidungen trifft?" wollte Leif wissen und traf damit zielgenau in die Mitte ihres Schmerzzentrums, so dass sie unwillkürlich das Gesicht verzog. "Wenn dir wirklich etwas daran liegt, solltest du es tun", fügte er hinzu. Der menschliche Geist ist durchaus in der Lage wegzusehen und Tatsachen umzudefinieren, bis sie ins eigne Weltbild passen", sagte Uta, obwohl ihr nicht nach Erklärungen zumute war. "Auch wir blenden täglich aus - Hunger in Afrika, Kriegsgreuel im Irak.... aber es funktioniert auch in der direkten Nachbarschaft. Die Zeitungen sind voll mit diesen Geschichten."
"Scarpetta Factor" - Patricia Cornwell
In den Marmor über dem Empfangstisch waren die Worte Taceant Colloquia Efugial Risus Hic Locus Est Ugbi Mors Gaudet Succurrere Vitae eingemeißelt - der Ort, wo der Tod seine Freude daran hat, den Lebenden zu helfen. Das Auto eines Mannes war ein Hinweis auf seinen Charakter und seine Selbstachtung. "Gelassenheit entsteht aus dem Wissen, was man ändern kann und was nicht", hatte Nancy, die Therapeutin, verkündet, als er ihr seine Ergebnisse präsentierte.
"Der Seele dunkle Pfade" - Sigmund Freud
Eigentlich durfte er frühestens in fünf Jahren an die Liebe denken, und von der Möglichkeit, eine eigene Familie zu gründen, trennten ihn wohl noch volle zehn Jahre. Seine Lestungen in Chemie waren zwar immer nur sehr mittelmäßig gewesen, aber eines hätte er eigentlich lernen müssen: dass die Liebe und der Kalender zwei Dinge sind, die keine Verbindung miteinander eingehen.
Blieb ich doch ein Junggeselle!" Martha war einundzwanzig. Sie stammte aus Hamburg, der stolzesten unter den Hansestädten. Und so sprach sie ein reines, gepflegtes Hochdeutsch, das so ganz anders war als die liebenswerte Schlamperei des Wiener Dialekts. Sie hatte ihm erzählt, warum sie bei ihrem reinen Hochdeutsch geblieben war, obgleich schon ihre Klassenkameradinnen sie deshalb als arrogant, hochnäsig und überheblich gehänselt hatten - mit Vorwürfen wie die meisten Wiener sie gegen die wohlhabenden, freiheitsliebenden, bürgerstolzen Hamburger erhoben.
Daraus ergab sich eine Diskussion über die
Frage, in welche Land es sich am besten leben ließe. Sigmund, der als
einziger von ihnen schon einmal im Ausland war, sagte: "Seit dem Wiener Kongress halten die Leute diese Stadt für eine Hochburg wilder, ausgelassener Lebensfreude nach dem Motto 'genießt heute, morgen sind wir vielleicht schon tot'! rief sie. "Aber das ist nichts als ein Mythos, eine Entstellung der Wahrheit. In Wirklichkeit wird das Leben der meisten Wiener von Verzweiflung beherrscht. die Musik, die Lieder, das ewige Walzertanzen, das alberne, erzwungene Lachen - das alles ist wie ein zerschlissener Mantel, mit dem sie ihre Blöße vor der Welt verdecken wollen. Es stimmt schon, was man so sagt: 'In Berlin ist die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos; in Wien ist die Lage hoffnungslos, aber nicht ernst.' In Hamburg geben wir nicht vor, fröhlich zu sein, wenn wir traurig sind oder Sorgen haben. Wir beschließen nicht jeden Satz mit einem albernen Trällern, wie es die Wiener auch dann tun, wenn sie den Tod ihrer eigenen Mutter verkünden. Wenn wir [Hamburger} einen Menschen nicht leiden können, dann behandeln wir ihn nicht äußerst liebenswürdig, nur um ihn hinterrücks mit spitzer Zunge zu erdolchen und seinen guten Ruf zu untergraben. Ich habe keine Lust, für den Rest meines Lebens das Sein dem Schein zu opfern. Für die Wiener ist die Jause um fünf Uhr die schönste Zeit des Tages. Das Mittagessen ist eine ernste Angelegenheit und dient der notwendigen Nahrungsaufnahme; das Abendessen ist nicht sehr reichhaltig und bietet zumeist eine gedrängte Übersicht der vom Tage übriggebliebenen Speisen. Aber die echte Stunde der Geselligkeit ist die Jause, wenn muntere Reden ebenso lebhaft fließen wie der aromatische braune Kaffee aus der Kanne. Dann reagiert die Gemütlichkeit, dann werden gute Freunde in trauter Runde zum Gespräch angeregt, dann hat ein jeder seinen festen Platz ind er Welt und sei er noch so bescheiden. Man erzählt und hört zu, man redet über unwichtige Dinge, der Ton wird nie verletzend, man lacht um des Lachens willen, man hat eine Stunde des Tages ganz für sich - ein Geschenk, das einem niemand nehmen kann. Vielleicht hinkt der Vergleich etwas, aber es stimmt schon: Eine menschliche Beziehung wird erst dann richtig seetüchtig, wenn sie ein paar Stürme überdauert hat. Dann weiß die Mannschaft, dass das Schiff nicht an der ersten Klippe scheitern wird." Nach dem Tod seiner Frau hatte Nothnagel einmal gesagt: "Wenn jemand seine Liebe verloren hat, bleibt ihm nur noch die Arbeit." Zwei Krankenschwestern versorgten den Saal, vollbusige Frauen vom Lande, die üblicherweise schon mit fünfzehn Jahren nach Wien kamen und nicht mehr gelernt hatten als die Kunst des Schrubbens. Das Krankenhaus (AKH) war eines der bestgeschrubbten Hospitäler der ganzen Welt. viele hatte nicht nur die Arbeitssuche nach Wien gelockt, sondern auch die Suche nach einem Mann, aber nur wenigen ging dieser Wunsch in Erfüllung. Die Mädchen mussten eine jahrelange Ausbildung durchmachen und zumeist niedere Arbeiten verrichten, ehe sie die Patienten versorgen durften. Sie trugen ihr Haar zu einem Schopf hochgesteckt. Ihre Dienstkleidung bestand aus kurzärmeligen Baumwollblusen, bodenlangen Röcken und weißen Schürzen mit einem schmalen Latz vor der Brust. Nur zweimal im Monat bekamen sie einen freien Sonntagnachmittag zugestanden. es war ein hartes Leben. "Ach was, ich gehöre nicht zu denen, die den Gedanken nicht ertragen könnten, vielleicht sterben zu müssen, ohne dass ihr Name in Granit eingemeißelt. Sigmund wusste nicht mehr, ob sein Vater öfter krank war, weil er weniger arbeitete, oder ob er weniger arbeitete, weil er anfälliger wurde. Und dennoch - er war in Wien aufgewachsen, der Stadt, die den Ruf genoss, sich der größten sexuellen Freiheit in ganz Europa zu erfreuen. Er wusste, dass es in geschlossenen Häusern junge, hübsche Prostituierte gab und dass die Damen der Demimonde jederzeit zu Liebesdiensten bereit waren. Seine reicheren und gleichzeitig weniger seriösen Kommilitonen hatten sich zumeist gleich nach dem Eintritt in die Universität nach einem süßen Mädchen vom Lande oder aus den umliegenden Arbeitervierteln umgesehen und sie bis zum Examen als Mätresse gehalten. Dann vergoss das süße Mädchen ein paar Tränen, trocknete sie aber rasch wieder, um bei der Suche nach einem neuen Liebhaber unter den jüngeren Studenten einen klaren Blick zu haben. Auch verheiratete Frauen waren durchaus nicht unzugänglich. Er hatte von so mancher modisch gekleideten Dame nachmittags bei Demel unmissverständliche Blicke aufgefangen, hatte beobachtet, wie ein Herr einer Dame etwas zuflüsterte, die allein in einem Café saß, und er wusste, dass darauf ein Rendezvous und die Erregung eines Abenteuer folgen würden. Der erste Lichtschimmer fiel auf den Fall, als sich Sigmund erinnerte, dass bei multipler Sklerose gelegentlich ein gesteigerter Sexualtrieb zu beobachten war. Wir können Multiple Sklerose auf akute Infektionen zurückführen, die in der Vergangenheit überstanden wurden. Krankheitssymptome treten erst dann auf, wenn der Patient unterernährt und körperlich geschwächt ist. Unter diesen Umständen revoltiert dann der schwächste Punkt des Rückenmarks. Minna hingegen nahm die Einladung an und schrieb, sie habe oft Heimweh nach dem Ring, dieser "architektonischen Speisekarte" Das Nervensystem konnte den durch ein Erinnerungstrauma im Unbewussten hervorgerufenen Energieüberschuss nicht länger ertragen und verschaffte sich Erleichterung in Form eines Anfalls. In diesem Anfall bestätigte sich das Konstanzprinzip. Nervenenergie glich der in einer Batterie gespeicherten elektronischen Energie. Jede Zelle konnte nur eine ganz bestimmte Ladung enthalten. Genauso beim Nervensystem: Kam es zu einer Überlastung, so musste für eine Entladung gesorgt werden. Diese Entladung konnte gemäßigt verlaufen und die Form von Halluzinationen annehmen, sie konnte aber auch heftig sein und zu Krämpfen, Zuckungen und epileptischen Anfällen führen. Die eigentliche Entladung vollzog sich im somatischen Bereich. sie erfolgte durch die äußersten Enden des Nervensystems. Aber Gehalt und Ursache waren psychisch bedingt.. Er bekannte gegenüber diesen schwergeprüften Männern, dass die Schuld bei ihm lag: er war unfähig, die Kette von Ursache und Wirkung zu entwirren. Dazu fehlte es ihm noch an Wissen und Erfahrung. Aber die Patienten konnten nicht warten. Wien war eine sehr freizügige Stadt, was die heterosexuellen Beziehungen anbetraf. Man ging fröhlich, charmant und augenzwinkernd über Verführung und Ehebruch hinweg, aber für die Homosexualität brachten die Wiener kein Verständnis auf. "Mein Vater sagte oft, kein Mensch sollte alles über sich selbst wissen, das sei niederschmettern." Warum hatte er sich zuletzt entschlossen, nach Graz zu reisen? Das war reine Prahlerei, eine ganz normale Form der Wunscherfüllung. I Wien drückte nämlich die Redensart "Was kostet Graz?" die Eitelkeit eines Mannes aus, der glaubte, sich f+r Geld alles kaufen zu können. Eigentlich konnte sich Sigmund diese Reisen nicht leisten, aber er lebte nach einem alten Wiener Sprichwort: "Wenn man reich werden will, muss man auch sein letztes Hemd verkaufen." "Herr, ich weiß, dass du mich retten würdest, wenn ich zu retten wäre." "Herr Dr. Adler, ich kann mich nicht auf den Klassenkampf einlassen, weil es mich ein Menschenalter kosten wird, den Kampf der Geschlechter zu gewinnen."
"Vor allen Dingen, mein Freund: Getane Arbeit
ist stets eine Leistung." An den Anfang seines 1914 erschienen Buches "Zur Geschichte des Psychoanalytischen Bewegung" hatte Sigmund Freud das Motto aus dem Wappen der Stadt Paris gestellt, das ein Schiff zeigte und darunter die Worte Fluctuat nexc mergitur - es wird von den Wogen hin und her geworfen, aber es sinkt nicht. Jetzt, in den Jahren 1921 und 1922, gelangte Sigmund zu der tröstlichen Erkenntnis, dass dieses Wort für ihn eben soviel Gültigkeit hatte wie für die Stadt Paris. Die Wahrnehmung spielt für das ICH die Rolle, welche im ES dem Trieb zufällt. Das ICH repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum ES, welches die Leidenschaften enthält. Wenn man nicht mehr weinen kann, muss man lachen. Eine lange Zeit sorgen wir uns darum, am Leben zu bleiben, dann machen wir uns Gedanken darüber, wie wir dem Tod entkommen können. Zwischen beiden Haltungen besteht ein feiner Unterschied. Es gibt viele Möglichkeiten, ausgebrannte und nutzlos gewordene Kammern im Unbewussten der Patienten wieder zu beleben. Je länger man lebt, desto weniger Monate scheint das Jahr zu haben. Später scheint dann auch der Monat immer weniger Tage zu zählen. Der individuelle Zeitbegriff ändert sich. Was am Morgen als neuer Tag beginnt, dämmert schon bald hinüber in die Nacht der Erschöpfung. Die Grenzen lösen sich auf, andere verschwimmen, und das Jahr endet, bevor man seinen Beginn so recht wahrgenommen hat. "Es ist nicht an dir, das Werk zu vollenden, doch bist du auch nicht frei, es zu lassen." Man braucht Menschen nicht aneinanderzuketten, wenn sie ohnehin zusammengehören.
"Mädchenfänger" - Jilliane Hoffmann
Das World Wide Web hatte ganz neue Jagdgebiete eröffnet. Unbehelligt streunten die Raubtiere durch Kinder-Chatrooms und Teenager-netzwerke und suchten sich aus Millionen von Profilen ihre beute heraus, die auf den Speisekarten von MySpace und Facebook standen, wo lächelnde Opfer ihre Feinde freiwillig mit appetitlichen Details über sich selbst versorgten. Hinter Tastatur und Bildschirm konnte sich die neue Sorte von Raubtier in alles Mögliche verwandeln: einen achtzehnjährigen Schüler, ein zwölfjähriges Mädchen, einen Talentscaut, Jay-Zs besten Freund. Sie nutzten die Naivität der Kids aus und die Ignoranz ihrer Eltern, gewannen ihr Vertrauen nd begannen langsam, vorsichtig, die Beziehung auszubeuten, bis sie ihr Opfer kaum merklich zu dem ultimativen, verheerenden Kick überredeten; dem Treffen in der Wirklichkeit. Und später, wenn mehrere Leben zerstört waren und endlich die Polizei anrückte, verschwanden sie mit einem einfachen Mausklick für immer in der schwarzen Tiefe des Cyberspace. Zo schüttelte den Kopf. Diplomatie war ein Drahtseilakt, und er war ein schlechter Akrobat. Bisher deutet alles darauf hin, das der Täter Ausreißer und Wegwerfkinder im Visier hat - Kids, die keiner will. Wie? Wie lernt er sie kennen? Und was für eine Musik spielt er auf seiner Flöte, dass sie mitten in der Nacht das Haus verlassen und ihm folgen wie dem Rattenfänger von Hameln?
"Der Seelenbrecher" - Sebastian Fitzek
Caspar nahm das Tuch von dem Brotkorb, und der Hunger in ihm schlug an wie ein Wachhund, der Witterung aufgenommen hat. Seit Stunden hatte er nichts mehr zu sich genommen. Die Tatsache, dass alles in ihm danach schrie, sofort diese Klinik zu verlassen, bedeutete auch, dass er sich leicht etwas vormachen konnte. Er hatte es vorgezogen, auf ein Behandlungswunder zu warten, anstatt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. In Wirklichkeit aber hatte er sich versteckt, und zwar nicht hier in der Klinik, sondern an einem Ort, an dem ihn niemand finden konnte; ins sich selbst. Es geschah ohne Vorwarnung Plötzlich legte ein biochemischer Bahnwärter auf dem Abstellgleis seines Gedächtnisses die erste Weiche um. Der Zug der Erinnerung kam schnell. Viel zu schnell für die stillgelegten Gleise, auf denen er sich durch sein Bewusstsein fraß, und Caspar rechnete schon damit, dass er den Gedanken nicht zu fassen bekommen würde. Doch dann verlangsamte sich die Lok, aus deren Schornstein dichter, nach brennendem Papier riechender Rauch aufstieg. Nach oben, immer weiter hinauf aus den Untiefen seins verschütteten Langzeitgedächtnisses bis er sich vor Caspars innerem Auge materialisierte. Er zwang sich , an nichts zu denken, und im ersten Augenblick schien es sogar zu funktionieren. Doch dann beging er den Fehler, seine Augen zu schließen. Und da er etwas zu lange das Foto des zweiten Opfers in der Zeitschrift angestarrt hatte, glühte das Bild der Lehrerin auf seiner Netzhaut nach, und mit der Ruhe war es vorbei. dieses Mal hörte er das Quietschen der Gleise, bevor der beißende Rauch der Lokomotive wieder seine Nase füllte. Er öffnete die Augen, und der Erinnerungszug fuhr ein. Caspar sah die einzelnen Mosaiksteinchen vor sich, ahnte anhand der Ränder und Schattierungen, wie sie zusammenpassen könnten, aber das Gesamtbild erschloss sich ihm trotzdem nicht. Denn das Narkosemittel, das ihm gerade injiziert wurde, hebt nur den biochemischen Teppich an, unter den man seine intimsten Geheimnisse gekehrt hat. Ein Phänomen, das jedem Anästhesisten bekannt ist. Ers macht die Narkoseärzte zu Beichtvätern, wenn ihre Patienten ihnen in den letzten Sekunden vor der Operation unfreiwillig die größten Stünden anvertrauen. Gerade Frauen neigen dazu, ihre sexuellen Vorlieben in drastischer Weise offenzulegen. Thiopental schwächt also das Kontrollzentrum im Gehirn. Aber es löst nur die absichtlich unterdrückten Gedanken, nicht die, die unbewusst in den Trümmern der Seele verschüttet worden sind. Der Sturm war löchriger geworden. Er schlug noch immer mit roher Brachialgewalt auf Dachschindeln, Fensterläden, Oberleitungen und jeden anderen ungesicherten Gegenstand ein, der sich ihm unvernünftigerweise in den Weg stellte. Doch hin und wieder setzte er aus, als müsse er Luft holen, um mit neu gewonnen Atem Fernsehantennen umzuknicken oder Bäume zu entwurzeln. Bei dieser Reise der Verwüstung war der Schnee weiterhin sein treuer Begleiter. Ein Komplize des Sturms, der seinen weißen Tarnmantel über die größten Schäden legte und sich jedem Zeugen ins Gesicht warf, der ihn bei der Zerstörung beobachten wollte. Es heißt, der Mensch würde sein wahres Ich erst in Extremsituationen erkennen. In Momenten, in denen es die Umstände unmöglich machten, nach den antrainierten Werten zu handeln, die in jahrelanger Konditionierung durch Eltern, schule, Freunde und sonstige Bezugspersonen von außen an einen Herangetragen wurden. Eine Krise sei wie ein scharfes Obstmesser. sie schäle die Hülle und lege den inneren Kern frei; den ungeformten, meist instinktgeprägten Urzustand, in dem die Selbsterhaltung die Moral dominiert.
Ein fast perfekter Plan - Petra Hammesfahr
Carla hatte einmal gesagt: "Wer Schmetterlinge spüren will, muss Raupen schlucken."
Denn niemand hört dein Rufen - Mary Higgins-Clark
Am Ende seines Lebens hat noch nie jemand gesagt, er wünschte, er hätte mehr Zeit im Büro verbracht.
"Das verlorene Symbol" - Dan Brown - Januar 2011
Dass das Böse selbst in einem unschuldigen Kind keimen konnte, das aus einer liebevollen Familie stammte, blieb einer der unlösbaren Widersprüche der menschlichen Seele, Peter hatte bereits früh einsehen müssen, dass zwar sein Blut durch die Adern seines Sohnes floss, dass Zachs Herz jedoch anders schlug als seines. Einzig und einzigartig, als wäre es willkürlich vom Universum ausgewählt.
Der Augensammler - Sebastian Fitzek
Das alles wäre kein Problem gewesen, wenn der Job wenigstens den Kontostand gebracht hätte, der Frauen in der Regel dazu verleitet, auf Äußerlichkeiten keinen Wert mehr zu legen. Kreative haben keine Arbeitszeiten, nur Deadlines. "Ab hier verlasse ich den wissenschaftlich festen Boden und begebe mich auf das schwammige Feld der Spekulation."
Das andere Kind - Charlotte Link
Vielleicht sollte sie auch das umfangreiche Material in ihrem eigenen Computer vernichten. Es würde ihr schwerfallen, aber wahrscheinlich war es besser so. War am Ende ohnehin eine Schnapsidee gewesen, alles aufzuschreiben. Was hatte sie sich davon nur versprochen? Erleichterung? Bereinigung ihres Gewissens? Eher schien es ihr, als habe sie etwas für sich klären wollen, für sich und Chad. Vielleicht hatte sie gehofft, sich selbst besser zu verstehen. Aber es hatte nichts gebracht. Sie verstand sich selbst keineswegs besser als vorher. Es hatte sich nichts geändert. Man änderte das eigene Leben nicht rückwirkend, indem man es analysierte, in eine Form zu bringen versuchte, die die Geschehnisse relativieren sollte. Fehler blieben Fehler, Sünden blieben Sünde. Man hatte mit ihnen leben müssen, man würde mit ihnen sterben. Sie war einsam gewesen, sie hatte nicht gewusst, wie sie den Weihnachtsabend hatte überstehen sollen. Das war die einzige Erklärung. Weihnachten, die große problematische Klippe im Jahr, die alleinstehende Menschen meist kaum zu umschiffen wussten, Eine Klippe, die so schwarz, schroff und beängstigend wirken mochte, dass man lieber in die albernste Unterhaltung floh, als allein in den eigenen vier Wänden zu sitzen. Zurzeit bist du wahrscheinlich bereit, so ziemlich jede Frau in Scarborough zu beglücken, die dir halbwegs gefällt und die nicht völlig abgeneigt ist. Ich nehme es keineswegs persönlich, dass ich eine von vielen gewesen wäre. Er sagte nichts. Sie ahnte, das er verschiedene Möglichkeiten erwog. Er war es gewohnt, sich trickreich durchs Leben zu schlängeln, nirgendwo wirklich anzuecken, sich aus unangenehmen Situationen herauszuwinden. Der gerade Weg, von unangenehmen Konsequenzen gesäumt, war ihm nicht vertraut. Und nie zuvor war ihm ein Mord in die Quere gekommen.. Fionas gewaltsamer Tod hatte nicht nur Daves Konzept umgeworfen, er hatte ihn auch erstmals in einen Bereich katapultiert, in dem mit seinen üblichen Schummeleiern, Ausflüchten, Tricksereien kein Meter Boden zu gewinnen war. Es war eine Sache, Frauen, die ihn anschmachteten, gegeneinander auszuspielen und elegant aneinander vorbeizuschleusen. Eine ander Sache war es, sich einer Mordkommission gegenüber erklären zu müssen. Ein paar verdammte Nummern größer. "Mir machte seine dominante Art zu schaffen", sagte Ena. "Es musste alles so gehen, wie er wollte. Immer. Er war reizend und fürsorglich, wenn man sich seinen Vorstellungen unterordnete, aber er wurde sehr wütend, wenn man ihm widersprach. Seine Stimme, sein Gesichtsausdruck, alles veränderte sich dann. "
Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht - Joseph Roth
Als ich diesen Brief schrieb, meine Freunde, wusste ich schon, dass ich meine Mutter niemals mehr sehen würde, und ich war auch , so merkwürdig es scheinen mag, sehr traurig darüber. Aber etwas anderes, Stärkeres - so schien es mir damals - rief mich, Stärker als die Liebe zur Mutter, nämlich der Hass gegen meinen falschen Bruder. Der Hass war so laut wie eine Trompete, und die Liebe zur Mutter war so leise und zart wie eine Harfe. Ich litt wahre Höllenqualen, während ich das Mädchen beobachtete. Ich war eifersüchtig. Jeden Augenblick zitterte ich, ein anderer, einer meiner Kollegen, könnte durch einen Zufall den Auftrag bekommen, Lutetia statt meiner zu überwachen. Ich war damals jung, meine Freunde! Wenn man jung ist, kann es vorkommen, dass die Eifersucht am Beginn der Liebe steht; ja, man kann glücklich sein, mitten in der Eifersucht, und gerade durch die Eifersucht. Das Leid macht uns genauso selig wie die Freude. Fast kann man das Glück vom Leid nicht unterscheiden. Die wahre Fähigkeit, Glück vom Leid zu unterscheiden, kommt erst im Alter, Und dann sind wir bereits zu schwach, um das Leid zu meiden und das Glück zu genießen. Ich zitterte. Wenn ich euch sage, dass ich damals Angst, wirkliche Angst empfand, zum ersten Mal in meinem Leben die hohläugige Angst, werdet ihr mir aufs Wort glauben, Ich hatte Angst vor Lutetia, Angst vor meiner Begierde, sie im Hemd zu sehn, Angst vor meiner Wollust, Angst vor dem Unbegreiflichen, dem Nackten, dem Willenlosen, Angst vor meiner eigenen Übermacht. Ich wandte mich um. Ich kehrte ihr den Rücken zu, während sie sich umkleidete. Sie lachte mich aus. Während ich ihr also angstvoll den Rücken zukehrte, mochte sie wohl mit dem hurtigen Instinkt der Frauen der die Furcht und die Ohnmacht der verliebten Männer zuallererst wittert, erkannt haben, dass ich einer der unschädlichsten Spitzel des großen Zarenreiches sei. Aber was rede ich von Instinkt! Sie wusste doch wohl, dass es meine Aufgabe war, sie genau und sogar scharf zu beobachten, und sie sah doch, dass ich mich umgewandt und mich ihr also preisgegeben hatte! Schon war ich ihr ausgeliefert! Schon hatte sie mich durchschaut! Ach, meine Freunde, es ist besser, sich einem erklärten Feind auszuliefern, als eine Frau wissen zu lassen, dass man sie liebt. Der Feind vernichtet euch schnell! - Die Frau aber - ihr werdet bald sehen, wie langsam, wie mörderisch langsam... Ich nahm sie auf meinen Schoß. Und es begannen, im Dunkel des Abends, der um uns durch zwei Scheiben hereinfiel, von zwei Seiten her - es war gar nicht ein Abend mehr, es waren deren zwei - die Liebkosungen, die ihr alle kennt, meine Freunde, und die so oft das Unheil unseres Lebens einleiten." Hätte sie damals geahnt, wer ich wirklich war, so hätte sie mir wahrscheinlich eingeredet, sie sei die uneheliche Tochter eins Barons. Da sie aber annehmen musste, dass ich mich in den Baronen auskannte, und da sie die Erfahrung besaß, dass die hochgestellten Herren die Niedrigen und die Armen mit einer geradezu dichterischen Wehmut betrachten und das Märchen von dem Wunder, das der Armut begegnet. [...] Die verlorene Existenz bedarf des verlogenen Fundamentes.
HIOB - Joseph Roth
Singer schien wenig Zeit zu haben und lauter dringende Ziele. Gewiss war sein Leben ständig schwer und zuweilen sogar eine Plage. Eine Frau und drei Kinder musste er kleiden und nähren. (Mit einem vierten ging sie schwanger.) Gott hatte seinen Lenden Fruchtbarkeit verliehen, seinem Herzen Gleichmut und seinen Händen Armut. Sie hatten kein Gold zu wägen und keine Banknoten zu zählen. Dennoch rann sein Leben stetig dahin wie ein kleiner Bach zwischen kärglichen Ufern. Aber nun sie hier stand, lag ein See von Tränen vor ihrem Blick, und sie sah den Mann hinter einer weißen Welle aus Wasser und Salz. Er hob die Hand, zwei dürre Finger glaubte sie zu erkennen, Instrumente des Segens. Aber ganz nah hörte sie die Stimme des Rabbi, obwohl er nur flüsterte: "Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Seinesgleichen wird es nicht viele geben in Israel. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark. Seine Augen werden weit sein und tief, seine Ohren hell und vol Widerhall. Sein Mund wird schweigen, aber wenn er die Lippen auftun wird, werden sie Gutes künden. Hab keine Furcht und geh nach Haus!" Gleich hinter den äußeren Toren ihrer Sinne lauerte die Neugier in Mirjam, die Schwester der Jugend, die Künderin der Lust. In einer süßen und heißen Furcht floh das Mädchen vor seinen Verfolgern. Nur um den schmerzlichen erregenden Genuss der Furcht auszukosten, floh es durch mehrere Gassen viele Minuten länger. .. Eines Tages also war die Erkenntnis über ihn gekommen. Es war wie eine zweite, eine wiederholte Ehe, diesmal mit der Hässlichkeit, mit der Bitterkeit, mit dem fortschreitenden Alter seiner Frau. Näher empfand er sie zwar, beinahe ihm einverleibt, untrennbar und auf ewig, aber unerträglich, quälend und ein bisschen auch gehasst. Sie war aus einem Weib, mit dem man sich nur in der Finsternis verbindet, gleichsam eine Krankheit geworden, mit der man Tag und Nacht verbunden ist, die einem ganz angehört, die man nicht mehr mit der Welt zu teilen braucht, und an deren treuer Feindschaft man zugrunde geht. Obwohl er auf nichts anderes als auf eine überraschende Freude vorbereitet war, ergriff ihn doch die Angst, es könnte ein Unglück geschehen sein. Ja, dermaßen war sein Herz an Unglück gewöhnt, dass er immer noch erschrak, selbst nach einer langen Vorbereitung auf das Glück. Was kann einem Mann wie mir, dachte er, überraschend Fröhliches widerfahren? Alles Plötzliche ist böse, und das Gute schleicht langsam. Dieser Brief ist ein guter Brief. Das Glück hat angefangen. Ein Glück bringt das andere, gelobt sei Gott. Da verließen zum ersten Mal die Sorgen das Haus Mendel Singers. Vertraut waren sie ihm gewesen, wie verhasste Geschwister.
Muschebubu - Christine Sylvester "Aha, Traummann also." Lala zog die Augenbrauen hoch. "Welche Sorte Traummann denn? Die verheiratete mit zwei Kindern, Eigenheim und gut dotierter Führungsposition ohne Freizeit?" Sie kannte Brigittes Beuteschema.
Rage(Zorn) - Sandra Brown "Aber mein Körper kennt keine Geduld, Dean. Für mich bedeutet jeder verstrichene Monat, dass ein Ei weniger im Körbchen liegt." Die Lust floss wie geschmolzenes Gold durch ihren Unterleib und in ihre Schenkel. Seit Jahren hatte sie diese unwiderstehliche Begierde, ausgefüllt zu werden, nicht mehr gespürt. Sie seufzte vor Glück, sie wieder zu spüren, und stöhnte vor Verlangen, sie zu stillen. Sex kann genauso zur Sucht werden wie alles andere. Wenn der innere Zwang jede Vernunft und Vorsicht ausschaltet. Wenn sich die Begierde negativ auf die Arbeit, die Familie, die übrigen Beziehungen auszuwirken beginnt. Wenn sie zur alleinigen Antriebskraft und zum ausschließlichen Belohnungsmittel wird. [...]Es ist der gleiche Punkt, an dem ein Geselligkeitstrinker zum Alkoholiker wird. Das Individuum kann sein Verlangen nicht mehr kontrollieren. Im Gegenzug beginnt das Verlangen das Individuum zu kontrollieren.
Sigmund Freud - Peter Schneider 06. Mai 1856 - 23.09.1939 Wien Freuds Psychoanalyse und ein Witz haben eines gemeinsam: Sie lassen sich nicht zusammenfassen. Wer über die Pointe lachen will, muss zuvor den ganzen Witz hören. Und er sich eine Vorstellung vom psychoanalytischen Denken machen will, kommt nicht umhin, sich mit den Problemen und Fragen zu beschäftigen, die Freud dazu antrieben, seine Theorie auf jene Art und Weise zu erfinden und immer wieder umzuformen, wie er es getan hat. Die Psychoanalyse hingegen lediglich als Konglomerat von Freuds "Ergebnissen" oder "Irrtümern" (je nachdem) darzustellen hieße, die Pointe ohne den Witz zu erzählen.
An der Frauenbrust treffen sich Liebe und
Hunger. Ein junger Mann, erzählt die Anekdote, der ein großer Verehrer der
Frauenschönheit wurde, äußerte einmal, als die Rede auf die schöne Amme
kam, die ihn als Säugling genährt; es tue ihm leid, die gute Gelegenheit
damals nicht besser ausgenützt zu haben. Ich pflege mich der Anekdote zur
Erläuterung für das Moment der Nachträglichkeit in dem Mechanismus
der Psychoneurosen zu bedienen.
Das erste Organ, das als erogene Zone
auftritt und einen libidinösen Anspruch an die Seele stellt, ist von der
Geburt an der Mund...Frühzeitig zeigt sich im hartnäckig festgehaltenen
Lutschen des Kindes ein Befriedigungsbedürfnis, das - obwohl von der
Nahrungsaufnahme ausgehend und von ihr angeregt - doch unabhängig von
Ernährung nach Lustgewinn strebt und darum sexuell genannt werden
darf und soll. Vater Jacob Freud scheint ein Lebenskünstler zu sein, dem die Tatsache, dass er auch i Wien nicht reich wird, seinen Optimismus nicht verderben kann. Er verbringt spätestens seit den neunziger Jahren einen großen Teil seiner Zeit mit Lesen, insbesondere der Lektüre des Talmuds (im hebräischen Original) sowie mit Spaziergängen und Kaffeehausbesuchen und ist mit seiner Position als freigeistiger Hobbygelehrter offenbar recht zufrieden.
Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig
machen oder zur Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt der Lehrer
sein Wissen auf die Schüler, durch Worte reißt der Redner die Versammlung
der Zuhörer mit sich fort und bestimmt ihre Urteile und Entscheidungen.
Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur
Beeinflussung der Menschen untereinander.
Die Neurose wie das Genie sind der miss- oder
gelungene Effekt eines (organischen) Minderwertigkeitskomplexes.
Freud über Adlers Arbeit: Nach dem
unmittelbaren Eindruck zu schließen, dürfte vieles daran richtig sein...
Er könne anführen, dass bei Personen, die durch Ichsucht, besonderen
Ehrgeiz etc. auffallen, die Analyse als letzten Grund schwere organische
Defekte aufdecke ... Er möchte Adler eine Formel zur Verfügung stellen....
die Neurose ist zurückzuführen auf das Missverhältnis zwischen
konstitutioneller Anlage und den kulturellen Anforderungen, die an das
Individuum gestellt werden. Der Psychiater Alfred Adler wurde am 7. Februar 1870 in Wien geboren und begründete nach seiner Trennung von Sigmund Freud die Schule der Individualpsychologie, in deren Mittelpunkt der Begriff des Minderwerrtigkeitskomplexes steht. Dieser Komplex speist sich aus der Erfahrung kindlicher Hilflosigkeit, körperlicher Mängel und sozialer Ablehnung. Der Mensch strebt danach, diese Mängel auszugleichen oder gar überzukompensieren. Alfred Adler starb am 28. Mai 1937, während einer Vortragsreise im schottischen Aberdeen. Sei Hauptwerk ist 'Praxis und Theorie der Individualpychologie' (1918) Das von C.G. Jung in die Welt gesetzte Gerücht, Freud habe eine Liebesaffäre mit seiner Schwägerin Minna unterhalten, gehört schon seit langem zum psychoanalytischen Klatsch. Seine Langlebigkeit erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass es zwar niemals als Tatsache bewiesen, aber eben auch nicht widerlegt werden konnte. Das dürfte auch in Zukunft so bleiben. "Meine kleine Sophie, die wir für einige Wochen nach Hamburg beurlaubt hatten, kam also vor zwei Tagen heiter, strahlend und entschlossen zurück und machte uns die überraschende Mitteilung, sie habe sich dort mit Ihnen verlobt." (7. Juli 1912) Und er fügt sich ziemlich widerstandslos in sein Schicksal als bereits von der zweiten Tochter 'verlassener' Vater: "Da wir nie etwas anderes gewünscht hatten, als dass sich unsere Töchter nach feier Neigung vergeben, wie es unsere älteste auch getan hat, so müssen wir mit diesem Ereignis im Grunde sehr zufrieden sein. Aber wir sind doch Eltern, mit allen Einb8ildungen dieses Stands belastet, fühlen uns verpflichtet, unsere Wichtigkeit zu behaupten, und darum wollen wir den energischen jungen Mann, dessen Entschlossenheit auf unser Kind übergegriffen hat, auch selbst ins Auge fassen ehe wir gerührt ja und amen sagen."
Der Mann mit dem Fagott - Udo Jürgens/Michaela Moritz Müdigkeit und Aufgekratztheit sorgen für jene merkwürdige Stimmung, die mich Abend für Abend beherrscht, Entspannte Konzentration gepaart mit matter Routine. Ein Leben, das mir manchmal unwirklich erscheint und das doch die Realität in all ihrer Härte in sich trägt. Nicht abgefedert von Illusionen, aber ein wenig gemildert durch Träume, Hoffnungen, Chancen, die sich auftun und wieder zerschlagen. Nun also wird Österreich frei. Wir haben alle gefeiert, aber ob 'immerwährende Neutralität' das richtige Aushängeschild für ein Land ist? Sich aus allem herauszuhalten und nur sein eigenes Süppchen zu kochen, scheint mir feige zu sein und unausgegoren, wenig dazu geeignet Profil zu zeigen. Gerade in Zeiten wie diesen, gerade jetzt, da es diese Chance bekommt. Nicht nch einmal Spielball der anderen sein. Sich ncht noch einmal zu verstecken suchen vor der Gewalttätigkeit der Geschichte in vermeintlicher Machtlosigkeit. Nicht noch einmal den Weg des geringsten Widerstandes gehen, sondern aufstehen und Stellung beziehen, für das Gute eintreten, das scheint mir der Weg zu sein, den ein freies Land gehen sollte. - Jugendlicher Heißsporn.
An meine Nachkommen. - In einer Stunde, in
der die mögliche Freiheit mir ebenso nah ist wie das mögliche Ende und ich
außer diesen Worten und diesem kostbaren letzten Besitz nichts
weiterzugeben habe, schreibe ich diese Zeilen und vermache die goldene
Taschenuhr meins Vaters an meinen zweitgeborenen Sohn Rudi. Sie soll ihm
am Tag seiner Volljährigkeit zusammen mit diesen Zeilen übergeben werden,
und so möge dies von Generation zu Generation weiter geschehen, in der
Hoffnung, einen Teil von mir selbst fortleben zu lassen in den Gedanken
und Gefühlen meiner Nachkommen. Denn eine Familie ist wie ein Baum, im
Erdreich verankert durch ein Geflecht von starken und schwachen Wurzeln,
die sich in seinem Stamm vereinen und in den dem Himmel zugewandten, nach
oben strebenden Ästen und Zweigen ihr Spiegelbild finden. Jeder ein Teil
des Ganzen, aber nur gemeinsam das Wunderwerk, das Wind und Wetter und
auch der Zeit trotzt. Heinrich spannt einen Bogen von den Idealen der Roten zur falschen Geliebten im schönen Kleid, dem schwarzen Schwan im Stück, die Tochter des Bösen, die Siegfried in die Irre führen und vom rechten Weg seiner Liebe abbringen soll. Nur eine schöne Fassade, Parolen, hinter denen nichts Gutes steckt, eine Fratze der Gefahr, die sich schön geschminkt hat. "Verheiratet hin oder her - manchmal gibt es nun einmal Gefühle, die sind wichtiger als alle Dokumente und Stempel. Ein Mensch, der einmal wirklich geliebt hat, hat auch gelebt!" Gitta und ich wollen allein sein, die letzten Stunden mit niemandem teilen. Hilflose Gefühle und die leise Ahnung, dass es im Leben nicht genügt, sich zu lieben. Hier [in Amerika] singt man stehend, strahlend, fröhlich, kleidet sich farbenfroh. Niemand kniet. Man lässt sich hier nicht unterdrücken von der Schwere des Kreuzes an der Wand, einem der niederdrückendsten Symbole unserer Welt. Wien war für mich schon immer ein wenig "balkanesk" mit dieser typischen Haltung von "nur net aufreg'n" oder "irgendwer wird's schon richten", die eigentlich gar nicht so recht zu den Prachtbauten und dem Innenstadtflair alter Weltherrschaft passen will und der Stadt und den Menschen hier natürlich auch einen ganz und gar unverwechselbaren Charm verleiht. Das "Nur net aufreg'n" scheint ein Wahlspruch der Wiener zu sein. Dabei scheint es mir, als würde man sich nirgends sonst auf der Welt über alles und jedes so maßlos schimpfend und zeternd aufregen wie in Wien. Man müsste sich an den französischen Chansons orientieren. Das sind Texte, die aus der Alltagssprache kommen, In ihnen kommen ganz normale Worte wie "Treppenhaus", "Mülleimer", "Rechtsanwalt", "Zigarettenschachtel" oder ähnliche Begriffe vor, die man in Liedern normalerweise nicht kennt. Es werden Geschichten aus dem täglichen Leben, aus der Erfahrungswelt der modernen Gesellschaft erzählt. Man müsste Autoren finden, die man in diese Richtung beeinflusst. Wie, in aller Welt, kommen eigentlich andere Menschen mit diesen Widersprüchen in der Seele, diesem ständigen Zwiespalt zwischen Freiheit und Zweisamkeit zurecht? Aber so sehr mich diese inneren Kämpfe auch belasten, ich fühle auch ganz deutlich diese Sehnsucht, die mich untreu und irgendwie auch rücksichtslos sein lässt, kommt ganz eindeutig aus der gleiche Quelle wie jene treibende Kraft, die mir Ideen, Lebensfreude gibt, mich Musik machen lässt. [beim grand prix de la chanson] Die Jury, das sind abwesende "Fachleute", die ihre Entscheidung auch nach politischen Kriterien treffen, so munkelt man jedenfalls. Die skandinavischen Länder geben sich die Punkte gegenseitig, genauso wie die romanischen und die angelsächsischen. Nur die deutschsprachigen gönnen sich gegenseitig nichts. Niemand versteht das, aber so ist es fast immer. Seit Jahren schon. Es entsteht jedesmal eine ganz eigene Dynamik der Punktevergabe, Lied und Interpret sind nicht allein entscheidend.
Das ich nicht treu bin, weiß Panja. Manchmal
frage ich mich, warum Treue für mich eigentlich etwas so Schwieriges ist.
Ich muss mir wohl eingestehen, dass ich in diesem Punkt von einem geradezu
grenzenlosen Egoismus befallen bin. Auch wenn ich verliebt zu einem
Menschen stehe, geht es nie so weit, dass ich Einschränkungen meiner
persönlichen Freiheit hinnehmen würde. Niemand scheint mir wichtiger zu
sein als meine eigene Ungebundenheit, so seltsam und bedenklich mir das
auch selbst manchmal erscheint. Es war eine Hochzeit im kleinsten Kreis [...] am amerikanischen Unabhängigkeitstag, einem Datum, das symbolisch für diese Ehe stehen soll: "Frei, doch nicht allein zu sein". Dazu kam der Zeitgeist jener Tage, die Lebenshaltung einer Zeit, die sich die "freie Liebe", die Sexualität ohne Verpflichtung, ohne Verantwortung auf die Fahnen geschrieben hatte. Man propagierte "Love and Peace", verstand "Love" aber meistens nur als oberflächliche Freizeitbeschäftigung ohne Konsequenzen, nahm sich vor, eine ganz neue Gesellschaftsform zu entwickeln, wobei grundlegende menschliche Sehnsüchte und Bedürfnisse über Bord geworfen und mit zynischen Wahlsprüchen wie "Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment" als spießig verachtet wurden. Ich nahm die Zeit mit ihrer eisigkalten Spaßgesellschaft so, wie sie nun einmal war, und lebte im Augenblick. Natürlich konnte ich damit Corinna nicht gerecht werden - so, wie ich in meinem Privatleben noch nie einem Menschen voll und ganz gerecht geworden war, nicht einmal meinen Kindern. Wer sich mit mir einließ, wusste schließlich, was ihn erwartete, redete ich mir ein. Und hinter meinem Beruf konnte ich mich sowieso immer auch ganz gut verstecken, Verantwortung von mir schieben. Diffuse Schulgefühle kamen immer wieder einmal auf und wurden verdrängt. Ernsthaft dachte ich über diese Dinge nicht nach. Vierzig Jahre ist es nun her, seit wir uns and der Ecke Kärntnerstraße/Weihburggasse getrennt haben und ich zu ahnen begann, dass mein leben so, wie ich es lebe, auch Leid zufügt. Und dass Liebe verletzbar ist und an meiner allzu wirren Freiheitssuche scheitern kann. Welchen Rat würde ich aus heutiger Sicht mir selbst vor dreißig oder vierzig Jahren geben? Ich weiß es nicht. Jede Lebensphase muss mit ganzer Seele durchlebt und auch durchlitten werden. Nichts lässt sich überspringen. Und ich bin gespannt, welche Erfahrungen ich heute, morgen, Übermorgen machen werde, welche Wirklichkeit meiner Seele für mich in der restliche Zeit meins Lebens gelten wird. Früher waren Großväter mächtige Gestalten, Männer, die wussten, wie das Spiel des Lebens zu spielen und zu gewinnen ist, Männer, vor denen selbst unsere starken Väter Respekt hatten, und nun soll ich so jemand sein? Ich schüttle ratlos den Kopf bei dem Gedanken und hoffe, meine Kinder erwarten von mir nicht die fehlerlose Erfüllung dieser Rolle. Schon als Vater war ich ja immer unvollkommen - und durfte es zum Glück auch sein. Und obwohl sie ihren Großvater Rudolf Bockelmann niemals kennengelernt hat, liebt sie wie er seit ihrer frühen Kindheit Tschaikowskis "Schwanensee" und das Ballett. Merkwürdige Gemeinsamkeit von Lebenserfahrungen, durch Generationen und Zeiten getrennt. Es wird etwas ganz Neues daraus entstehen. Das Leben schreitet voran, und das einzig Beständige ist die Veränderung. Wenn ich an all das denke, was ich in meinem Leben erfahren habe, kann ich manchmal kaum begreifen, das das alles Mein Leben gewesen ist und das es nun bald sieben Jahrzehnte umfassen soll. Die Zahl, die mein Alter misst, macht mir manchmal angst, flößt mir zumindest Respekt ein. Wie viel Zeit werde ich noch haben, um auch morgen etwas zu bewegen, um ein Leben zu führen, das nach vorne gerichtet ist? Die Perspektive in die Vergangenheit ist um so vieles länger als jene in die Zukunft. Durch die Sanduhr meines Lebens läuft schon lange nicht mehr Sand, sondern pures Gold.
In mein Gesicht ist eingegraben, wie ich
fühle, was ich bin,
Die Kapuzinergruft - Joseph Roth
Die Gnade des Kaisers erstreckte sich noch
auf seinen Sohn, der Bezirkshauptmann wurde, und auf den Enkel, der als
Leutnant der Jäger im Herbst 1914 in der Schlacht bei Krasne-Busk gefallen
ist. Ich habe ihn niemals gesehn, wie überhaupt keinen von dem geadelten
Zweig unseres Geschlechts. Die geadelten Trottas waren fromm-ergebene
Diener Franz Josephs geworden. Mein Vater aber war ein Rebell. Ich lebte in der fröhlichen, ja ausgelassenen Gesellschaft junger Aristokraten, jener Schicht, die mir neben den Künstlern im alten Reich die liebste war. Ich teilte mit ihnen den skeptischen Leichtsinn, den melancholischen Fürwitz, die sündhafte Fahrlässigkeit, die hochmütige Verlorenheit, alle Anzeichen des Untergangs, den wir damals noch nicht kommen sahen. "In dieser Monarchie", erwiderte Graf Chojnicki, er war der älteste unter uns, "ist nichts merkwürdig. Ohne unsere Regierungstrottel" (er liebte Starke Ausdrücke) "wäre ganz gewiss auch dem äußerlichen Anschein nach gar nichts merkwürdig. Ich will damit sagen, dass das sogenannte Merkwürdige für Österreich-Ungarn das Selbstverständliche ist. Ich will zugleich damit auch sagen, dass nur diesem verrückten Europa der Nationalstaaten und der Nationalismen das Selbstverständliche sonderbar erscheint. Freilich sind es die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Galizianer die Kaftanjuden aus Boryslaw, die Pferdehändler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajevo, die Maronibrater aus Mostar, die 'Gott erhalte' singen. Aber die deutschen Studenten aus Brünn und Eger, die Zahnärzte, Apotheker, Friseurgehilfen, Kunstphotographen aus Linz, Graz, Knittelfeld, die Kröpfe aus den Alpentälern, sie alle singen 'Die Wacht am Rhein'. Österreich wird an dieser Nibelungentreue zugrunde gehn, meine Herren! Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie. Österreich ist nicht in den Alpen zu finden, Gemsen gibt es dort und Edelweiß und Enzian, aber kaum eine Ahnung von einem Doppeladler. Die österreichische Substanz wird genährt und immer wieder aufgefüllt von den Kronländern." Die Ungarn, lieber Kovacs, unterdrücken nicht weniger als folgende Völker: Slowaken, Rumänen, Kroaten, Serben, Ruthenen, Bosniaken, Schwaben aus der Bacska und Siebenbürger Sachsen. Ich kämpfte lange Zeit vergebens gegen diese Liebe, nicht so sehr deshalb, weil ich mich gefährdet glaubte, sondern weil ich den stillen Spott meiner skeptischen Freunde fürchtete. Es war damals, kurz vor dem großen Kriege, ein höhnischer Hochmut in Schwung, ein eitles Bekenntnis zur sogenannten "Dekadenz", zu einer halb gespielten und outrierten Müdigkeit und einer Gelangweiltheit ohne Grund. In dieser Atmosphäre hatten Gefühle kaum einen Platz. Leidenschaften gar waren verpönt. Meine Freunde hatten klein, ja unbedeutende "Liaisons", Frauen, die man ablegte, manchmal sogar herlieh wie Überzieher; Frauen, die man vergaß wie Regenschirme oder absichtlich liegenließ wie lästige Pakete, nach denen man sich nicht umsieht, aus Angst, sie könnten einem nachgetragen werden. In dem Kreis, in dem ich verkehrte, galt die Liebe als eine Verirrung, ein Verlöbnis war so etwas wie eine Apoplexie und eine Ehe ein Siechtum. Wir waren jung. An eine Heirat dachte man zwar als eine unausbleibliche Folge des Lebens, aber ähnlich, wie man an eine Sklerose denkt, die wahrscheinlich in zwanzig oder dreißig Jahren notwendig eintreten muss. Ich sah auf ihren Schoß, das Mütterlichste meiner Mutter, und ich verwunderte mich darüber, dass ich so stumm ihr gegenüberzusitzen vermochte, so hartnäckig, ja, so hartgesotten, und dass auch sie , meine Mutter, kein Wort für mich fand und dass sie sich offenbar vor ihren erwachsenen, allzuschnell erwachsenen Sohn ebenso schämte wie ich mich vor ihr, der alt gewordenen, zu schnell alt gewordenen, die mir das Leben geschenkt hatte. Wie gern hätte ich zu ihr von meiner Zwiespältigkeit gesprochen, von meinem Doppelleben, von Elisabeth, von meinen freunden! Aber sie wollte offenbar nichts hören von all dem, was sie ahnte, um nicht laut missbilligen zu müssen, was sie im stillen geringschätzte. Vielleicht, wahrscheinlich, hatte sie sich auch mit dem ewigen, grausamen Gesetz der Natur abgefunden, das die Söhne zwingt, ihren Ursprung bald zu vergessen; ihre Mütter als ältere Damen anzusehen; der Brüste nicht mehr zu gedenken, an denen sie ihre erste Nahrung empfangen haben; stets Gesetz, das auch die Mütter zwingt, die Früchte ihres Leibes groß und größer, fremd und fremder werden zu sehen; mit Schmerz zuerst, mit Bitterkeit sodann und schließlich mit Entsagung. Ich fühlte, das meine Mutter mit mir deshalb so wenig sprach, weil sie mich nicht Dinge sagen lassen wollte, wegen deren sie mir hätte grollen müssen. Die bunte Heiterkeit der Reichs-, Haupt- und Residenzstadt nährte sich ganz deutlich - mein Vater hatte es so oft gesagt - von der tragischen Liebe der Kronländer zu Österreich: der tragischen, weil ewig unerwiderten. Die Zigeuner der Pußta, die subkarpatischen Huzulen, die jüdischen Fiaker von Galizien, meine eigenen Verwandten, die slowenischen Maronibrater von Sipolje, die schwäbischen Tabakpflanzer aus der Bacska, die Pferdezüchter der Steppe, die osmanischen Sibersna, jene von Bosnien und Herzegowina, die Pferdehändlicher aus der Hanakei in Mähren, die Weber aus dem Erzgebirge, die Müller und Korallenhändler aus Podolien; sie alle waren die großmütigen Nährer Österreichs; je ärmer, desto großmütiger. So viel Weh, so viel Schmerz, freiwillig dargeboten, als wäre es selbstverständlich, hatten dazu gehört, damit das Zentrum der Monarchie in der Welt gelte als die Heimat der Grazie, des Frohsinns und der Genialität. Unsere Gnade wuchs und blühte, aber ihr Feld war gedüngt von Leid und von der Trauer. Es war Sitte in usnerem Hause, die Speisen zu oben, auch wenn sie missraten waren, und von nichts anderem zu sprechen. Auch durfte das Lob keineswegs etwa banal sein, eher schon kühn und weit hergeholt. So sagte ich zum Beispiel, das Fleisch erinnere mich an ein ganz bestimmtes, das ich vor sechs oder acht Jahren, ebenfalls an einem Dienstag, gegessen hätte, und das Dillenkraut sei geradezu, heute wie damals, mit dem Beinfleisch vermählt. Völlige Sprachlosigkeit spielte ich vor den Zwetschkenknödeln: "Bitte genau die gleichen, sobald ich zurück bin", sagte ich zu Jacques. Seit mehr als drei Jahren liebte ich Elisabeth, aber die vergangenen drei Jahre erschienen mir kurz im Verhältnis zu den sechzehn Stunden, obwohl es doch umgekehrt hätte sein sollen. Das Verbotene ist raschlebig, das Erlaubte hat von vornherein in sich schon die Dauerhaftigkeit. Außerdem schien mir auf einmal Elisabeth zwar noch nicht verändert, aber bereits auf dem Wege zu irgendeiner Veränderung. Damals machte ich zum erstenmal die Erfahrung, dass wir nur flüchtig erleben, hurtig vergessen und flüchtig sind wie kein anderes Geschöpf auf Erden. Dieser Enkel Abrahams. der Erbe eines Segens und eines Fluches, leichtfertig als Österreicher, schermütig als Jude, gefühlvoll, aber genau bis zu jener Grenze, an der ein Gefühl anfangen kann, Gefahr zu werden, klarsichtig trotz einem wackligen und schiefsitzenden Zwicker, war mir mit der Zeit lieb geworden wie ein Bruder.
Radetzkymarsch - Joseph Roth Er besaß eine durchschnittliche militärische Begabung, von der er jedes Jahr bei den Manövern durchschnittliche Proben ablegte, war ein guter Gatte, misstrauisch gegen Frauen, den Spielen fern, mürrisch, aber gerecht im Dienst, grimmiger Feind jeder Lüge, unmännlichen Gebarens, feiger Geborgenheit, geschwätzigen Lobs und ehrgeiziger Süchte. Er war so einfach und untadelig wie seine Konduitenliste, und nur der Zorn, der ihn manchmal ergriff, hätte einen Kenner der Menschen ahnen lassen, dass auch in der der Seele des Hauptmanns Trotta die nächtlichen Abgründe dämmerten, in denen die Stürme schlafen und die unbekannten Stimmen namenloser Ahnen. Alle Platzkonzerte - sie fanden unter dem Balkon des Herrn Bezirkshauptmanns statt - begannen mit dem Radetzkymarsch. Obwohl er den Mitgliedern der Kapelle so geläufig war, dass sie ihn mitten in der Nacht und im Schlaf hätten spielen können, ohne dirigiert zu werden, hielt es der Kapellmeister dennoch für notwendig, jede Note vom Blatt zu lasen. Und als probte er den Radetzkymarsch zum ersten mal mit seinen Musikanten, hob er jeden Sonntag in militärischer und musikalischer Gewiss3enhaftigkeit den Kopf, den Stab und den Blick und richtete alle drei gleichzeitig gegen die seiner Befehle jeweils bedürftig scheinenden Segmente des Kreises, in dessen Mitte er stand. Die herben Trommeln wirbelten, die süßen Flöten pfiffen, und die holden Tschinellen schmetterten. Auf den Gesichtern aller Zuhörer ging ein gefälliges und versonnenes Lächeln auf, und in ihren Beinen prickelte das Blut. Während sie noch standen, glaubten sie schon zu marschieren. Die jüngeren Mädchen hielten den Atem an und öffneten die Lippen. die reiferen Männer ließen die Köpfe hängen und gedachten ihrer Manöver. Die ältlichen Frauen saßen im benachbarten Park, und ihre kleinen, grauen Köpfchen zitterten. Und es war Sommer. Die große Wehmut dieser Instrumente strömte durch die geschlossenen Fenster in das schwarze Rechteck des Hofes und erfüllte die Finsternis mit einer lichten Ahnung von Heimat und Weib und Kind und Hof. Daheim wohnten sie in niedrigen Hütten, befruchteten nächtens die Frauen und tagsüber die Felder! Weiß und hoch lag winters der Schnee um ihre Hütten, Gelb und hoch wogte im Sommer das Korn um ihre Hüften. Bauern waren sie. Bauern! Nicht anders hätte das Geschlecht der Trottas gelebt! Nicht anders! Er glaubte, der Gute, dass Kurzsichtige auch taub seien und das ihre Brillen klarer würden, wenn ihre Ohren besser hörten. Die Strahlen der habsburgischen Sonne reichten nach dem Osten bis zur Grenze des russischen Zaren. Es war die gleiche Sonne, unter der das Geschlecht der Trottas zu Adel und Ansehen herangewachsen war. Die Dankbarkeit Franz Josephs hatte sein langes Gedächtnis, und seine Gnade hatte einen langen Arm. Wenn eines seiner bevorzugten Kinder im Begriffe war, eine Torheit zu begehn, griffen die Minister und Diener des Kaisers rechtzeitig ein und zwangen den Törichten zu Vorsicht und Vernunft. Es wäre kaum schicklich gewesen, den einzigen Nachkommen des neu geadelten Geschlechtes derer von Trotta und Sipolje in jener Provinz dienen zu lassen, welcher der Held von Solferino entstammte, der Enkel analphabetischer slowenischer Bauern, der Sohn eines Wachtmeisters der Gendarmerie. Mochte es dem Nachfahren immer noch gefallen, den Dienst bei den Ulanen mit dem bescheidenen bei den Fußtruppen zu vertauschen: er blieb also treu dem Gedächtnis des Großvaters, der als einfacher Leutnant der Infanterie dem Kaiser das Leben gerettet hatte. Aber die Umsicht des kaiser- und königlichen Kriegsministeriums vermied es, den Träger eines Adelsprädikats, das genau so hieß wie das slowenische Dorf, dem der Begründer des Geschlechtes entstammte, in die Nähe dieses Dorfes zu schicken. Ebenso wie die Behörden dachte auch der Bezirkshauptmann, der Sohn des Helden von Solferino. Zwar gestattete er - und gewiss nicht leichten Herzens - seinem Sohn die Transferierung zur Infanterie. Aber mit dem Verlangen Carl Josephs, in die slowenische Provinz zu kommen, war er keineswegs einverstanden. Er selbst, der Bezirkshauptmann, hatte niemals den Wunsch gespürt, die Heimat seiner Väter zu sehn. Er war ein Österreicher. Diener und Beamter der Habsburger, und seine Heimat war die Kaiserliche Burg zu Wien. Wenn er politische Vorstellungen von einer nützlichen Umgestaltung des großen und vielfältigen Reiches gehabt hätte, so wäre es ihm genehm gewesen, in allen Kronländern lediglich große und bunte Vorhöfe der Kaiserlichen Hofburg zu sehn und in allen Völkern der Monarchie Diener der Habsburger. Er war ein Bezirkshauptmann. In seinem Bezirk vertrat er die Apostolische Majestät. Er trug den goldenen Kragen, den Krappenhut und den Degen. Er wünschte sich nicht, den Pflug über die gesegnete slowenische Erde zu führen. In dem entscheidenden Brief an seinen Sohn stand der Satz. "Das Schicksal hat aus unserm Geschlecht von Grenzbauern Österreicher gemacht. wir wollen es bleiben."
Die Grenze zwischen Österreich und Russland,
um Nordosten der Monarchie, war um jene Zeit eines der merkwürdigsten
Gebiete. Das Jägerbataillon Carl Josephs lag in einem Ort von zehntausend
Einwohnern. Er hatte einen geräumigen Ringplatz, in dessen Mittelpunkt
sich seine zwei großen Straßen kreuzten. Die eine führte von Osten nach
Westen, die andere von Norden nach Süden. Die eine führte vom Bahnhof zum
Friedhof. Die andere von der Schlossruine zur Dampfmühle. Von den
zehntausend Einwohnern der Stadt ernährte sich ungefähr ein Drittel von
Handwerk aller Art. Ein zweites Drittel lebte kümmerlich von seinem kargen
Grundbesitz. Und der Rest beschäftigte sich mit einer Art von Handel. Zwischen den Offizieren des Jägerbataillons, denen des Dragonerregiments und den Herren der russischen Grenzregimenter stellte der Graf Wojciech Chojnicki, verwandt mit den Ledochowskis und den Potockis, verschwägert mit den Sternbergs, befreundet mit den Thuns, Kenner der Welt, vierzig Jahre alt, aber ohne erkennbares Alter, Rittmeister der Reserve, Junggeselle, leichtlebig und schwermütig zu gleicher Zeit, liebte die Pferde, den Alkohol, die Gesellschaft, den Leichtsinn und auch den Ernst. Den Winter verbrachte er in großen Städten und in Spielsälen der Riviera. Wie ein Zugvogel pflegte er, wenn der Goldregen an den Dämmen der Eisenbahn zu blühen begann, in die Heimat seiner Ahnen zurückzukehren. Er brachte mit sich einen leicht parfümierten Hauch der großen Welt und galante und abenteuerliche Geschichten. Er gehörte zu den Leuten, die keine Feinde haben können, aber auch keine Freunde, lediglich Gefährten, Genossen und Gleichgültige. Mit seinen hellen klugen, ein wenig hervorquellenden Augen , seiner spiegelnden Glatze, seinem kleinen, blonden Schnurrbärtchen, den schmalen Schultern, den übermäßig langen Beinen gewann Chojnicki die Zuneigung der Menschen, denen er zufällig oder absichtlich in den Weg kam. Ungläubig, spöttisch, furchtlos und ohne Bedenken pflegte Chojnicki zu sagen, der Kaiser sei ein gedankenloser Greis, die Regierung eine Bande von Trotteln, der Reichsrat eine Versammlung gutgläubiger und pathetischer Idioten, die staatlichen Behörden bestechlich, feige und faul. Die deutschen Österreicher waren Walzertänzer und Heurigensänger, die Ungarn stanken, die Tschechen waren geborene Stiefelputzer, die Ruthenen verkappte und verräterische Russen, die Kroaten und Slowenen, die er 'Krowoten und Schlawiner' nannte, Bürstenbinder und Maronibrater, und die Polen, denen er je selbst angehörte, Courmacher, Friseure und Modefotografen. Im 'Fremdenblatt' hatte man gestern noch lesen können, dass die deutschen Studenten in Prag die 'Wacht am Rhein' gelegentlich singen, diese Hymne der Preußen, der mit Österreich verbündeten Erbfeinde Österreichs. Die Monarchie, unserer Monarchie, ist gegründet auf der Frömmigkeit: auf dem Glauben, dass Gott die Habsburger erwählt hat, über so und so viel christliche Völker zu regieren. Unser Kaiser ist ein weltlicher Bruder des Papstes, es ist Seine K. u. K. Apostolische Majestät, keine andere wie er apostolisch, keine ander Majestät in Europa so abhängig von der Gnade Gottes und vom Glauben der Völker an die Gnade Gottes. Der deutsche Kaiser regiert, wenn Gott ihn verlässt, immer noch; eventuell von der Gnade der Nation. Der Kaiser von Österreichisch-Ungarn darf nicht von Gott verlassen werden. Nun aber hat ihn Gott verlassen!" Die Lust brauste über die Erinnerung hin und schwemmte alle Spuren fort. Dem Leutnant Trotte erschien die Welt verändert. Infolgedessen stellte er fest, dass er soeben die Liebe kennengelernt habe, das heißt: die Verwirklichung seiner Vorstellungen von der Liebe. Sie sah ihn an, von mütterlichem Stolz erfüllt, als hätte sie ein Verdienst an den Tugenden, die er nicht besaß und die sie ihm zuschrieb wie eine Mutter. Den größten Teil des Jahres hatte Doktor Skowronnek gar nichts zu tun. Er arbeitet nur vier Monate im Jahr als Badearzt in Franzens Bad, und seine ganze Weltkenntnis beruhte auf den Geständnissen seiner Patientinnen; denn die Frauen erzählten ihm alles, wovon sie bedrückt zu sein glaubten, indes gab nichts in der Welt, was sie nicht bedrückt hätte. Ihre Gesundheit litt unter dem Beruf ihrer Männer, ebenso wie unter deren Lieblosigkeit, unter der 'allgemeinen Not der Zeit', unter der Teuerung, unter den politischen Krisen, unter der ständigen Kriegsgefahr, unter den Zeitungsabonnements der Gatten, der eigenen Beschäftigungslosigkeit, der Treulosigkeit der Liebhaber, der Gleichgültigkeit der Männer, aber auch unter deren Eifersucht. Auf diese Weise lernte Doktor Skowronnek die verschiedenen Stände und ihr häusliches Leben kennen, die Küchen und die Schlafzimmer, die Neigungen, die Leidenschaften und die Dummheiten. Und da er den Frauen nicht alles glaubte, sondern nur drei Viertel von dem, was sie ihm berichtete, erlangte er mit der Zeit eine ausgezeichnete Kenntnis der Welt, die wertvoller war als seine medizinische. Auch wenn er mit Männern sprach, lag auf seinen Lippen das ungläubige und dennoch bereitwillige Lächeln eines Menschen, der alles zu hören erwartet. Eine Art abwehrender Güte leuchtete auf seinem kleinen verkniffenen Antlitz. Und in der Tat hatte er die Menschen ebenso gern, wie er sie geringschätzte. Herr von Trotta hatte immer darauf gehalten, reicher zu erscheinen, als er war. Er hatte die Instinkte eines wahren Herrn. Und es gab um jene Zeit (und es gibt vielleicht auch heute noch) keine kostspieligeren Instinkte. Die Menschen die mit derlei Flüchen begnadet sind, wissen weder, wieviel sie besitzen, noch, wieviel sie ausgeben. Sie schöpfen aus einem unsichtbaren Quell. Sie rechnen nicht. Sie sind der Meinung, ihr Besitz könne nicht geringer sein als ihre Großmut. Und zum ersten Mal in seinem nunmehr langen Leben musste der Bezirkshauptmann erfahren, wie schwer es ist, hilflos zu sein und würdig zu bleiben. Wie ein Blitz fiel diese Erfahrung auf ihn nieder, zerbrach in einem Nu den Stolz, den Herr von Trotta so lange sorgfältig gehütet und gepflegt, de er ererbt hatte und weiterzuvererben entschlossen war. Jelacich, ein Slowene, geriet in Zorn, Er hasste die Ungarn ebenso, wie er die Serben verachtete. Er liebte die Monarchie. Er war ein Patriot. Aber er stand da, die Vaterlandsliebe in ausgebreiteten, ratlosen Händen, wie eine Fahne, die man irgendwo anbringen muss und für die man keinen Dachfirst findet. Seit etwa hundertfünfzig Jahren diente seine Familie redlich und ergeben der Dynastie der Habsburger. Aber schon seine beiden halbwüchsigen Söhne sprachen von der Selbstständigkeit aller Südslawen und verbargen vor ihm Broschüren, die aus dem feindlichen Belgrad stammen mochten. Nun, er liebte seine Söhne! Jeden Nachmittag um ein Uhr, wenn das Regiment das Gymnasium passierte, stürzten sie ihm entgegen, sie flatterten aus dem großen braunen Tor der Schule, mit zerrauftem Haar und Gelächter in den offenen Mündern, und väterliche Zärtlichkeit zwang ihn, vom Pferd zu steigen und die Kinder zu umarmen. Er schloss die Augen, wenn er sie verdächtige Zeitungen lesen sah, und die Ohren , wenn er sie Verdächtiges reden hörte. Er war klug, und er wusste dass er ohnmächtig zwischen seinen Ahnen und seinen Nachkommen stand, die bestimmt waren, die Ahnen eines ganz neuen Geschlechtes zu werden. Sie hatten sein Gesicht, die Farbe seiner Haare und seiner Augen, aber ihre Herzen schlugen einen neuen Takt, ihre Köpfe gebaren fremde Gedanken, ihre Kehlen sangen neue und fremde Lieder, die er nicht kannte. Und mit seinen vierzig Jahren fühlte sich der Rittmeister wie ein Greis, und seine Söhne kamen ihm vor wie unbegreifliche Urenkel.
Das falsche Gewicht - Joseph Roth Zum ersten Mal verspürte er jenen Schauder, den Ahnung allein bereiten kann. Er fühlte, dass sich hier, in Zlotograd, sein Schicksal erfüllen sollte. Die meisten sterben dahin, ohne von sich auch nur ein Körnchen Wahrheit erfahren zu haben. Vielleicht erfahren sie es in der anderen Welt. Manchen aber ist es vergönnt, noch in diesem Leben zu erkennen, was sie eigentlich sind. Sie erkennen es gewöhnlich sehr plötzlich, und sie erschrecken gewaltig. Zu dieser Art Menschen gehörte der Eichmeister Eibenschütz. Der Knecht kam, ihn auszuspannen. [...] Es war ein alter Knecht, ein ruthenischer Bauer. Onufrij hieß er, und taub war er auch. Man hätte glauben können, er verstünde nichts, aber er begriff Alles, vielleicht, weil er so taub und so alt war. Manche, die wenig hören, sind imstande, gar viel zu bemerken. Er erlebt, während man ihn für einen Toten hält, etwas ganz Anderes: [...] hinter dem großen Eichmeister steht ein Gendarm mit Helmbusch und Bajonett, und den kennt Eibenschütz gar nicht. Er fürchtet sich aber vor ihm, das Bajonett funkelt zu sehr. Der große Eichmeister beginnt, die Gewichte zu prüfen. Schließlich sagt er - und Eibenschütz ist höchst erstaunt: "Alle Deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch richtig.
Nachwort: Schließlich sieht Eibenschütz im Leben keinen Sinn mehr, als seine sehnsüchtig erhoffte Liebe sich als illusionär erwiest. Und Roth selbst verlosch unter dem schmeichlerischen Einfluss des Alkohols, der ihm gerade noch die Lebensspanne ließ, um die Geschichte "Das falsche Gewicht" zu ersinnen.
Aber im Gegensatz zu Mendel Singer bleibt
Eibenschütz die Schicksalswende zum Positiven verwehrt. Es ist die Frage
schlechthin, die Eibenschütz noch nachdrücklicher als Mendel Singer in den
Raum stellt und die Roth wohl zeitlebens umgetrieben hat: die Frage nach
dem Sinn des Lebens in einer Zeit, in der Ordnung und Werte als
Orientierungshilfen fehlen.
Und Nietzsche weinte - Irvin D. Yalom Er warf den Kopf hin und her, wollte die morbiden Gedanken abschütteln. Wo kamen sie bloß her? Entstammten sie dem Gespräch mit Nietzsche übers Sterben? Nein, Nietzsche hatte ihm diese Gedanken nicht eingegeben, allenfalls freigesetzt; wie waren immer schon da gewesen, er hatte sie alle schon gedacht. Und wo wohnten sie in seinem Bewusstsein, wenn er sie nicht dachte? Freud hatte recht: Es musste ein Reservoir komplexer Gedanken im Gehirn geben, außerhalb des Bewusstseins, doch immer in Rufnähe, jederzeit bereit zur Musterung und zum Aufmarsch auf die Bühne des bewussten Denkens. Wie unerschrocken sich Nietzsche äußerte! Man denke nur: Zu sagen, die Hoffnung sei das übelste der Übel! Gott sei tot! Die Wahrheit sei die Art von Irrtum, ohne welche wir nicht leben könnten! Die Feinde der Wahrheit seien nicht Lügen, sondern Überzeugungen!. Das Vorrecht der Toten sei es, nicht mehr sterben zu müssen!
Rachel mag Mathilde nicht das Wasser reichen
könne, doch ohne Liebreiz ist auch sie nicht - und dennoch zieht es mich
stärker zu Fräulein Wittner hin, die - unter uns - etwas Froschähnliches
an sich hat. Manchmal schlendere ich die Kirstenstraße entlang, ich sehe
die zwanzig, dreißig Mizzis, welche da aufgereiht stehen, und ich gerate
sehr in Versuchung. Nicht eine von ihnen ist so h+bsch wie Rachel, viele
leiden an Gonorrhöe oder Syphilis, und doch lockt es mich. Wenn ich mir
vollkommen gewiss wäre, dass mich niemand erkennte, wer weiß? Vielleicht
würde ich schwach! Keiner isst gern tagaus, tagein dieselbe Speise. Weißt
du, Josef, auf jede schöne Frau kommt ein armer Tropf, der es leid ist,
sie zu schtupn!" Ein ausgezeichneter Bericht, Doktor Breuer, so vollständig wie verständlich, und im Gegensatz zu anderen Krankenberichten enthält er keinen Jargon, welcher profundes Wissen vorspiegelt und in Wirklichkeit die Sprache der Unwissenheit ist.
"Damit Sie verstehen, muss ich Ihnen zuvor
berichten, was sich zwischen mir und Bertha zutrug. Da nützt keine
Beschönigung, besser, ich erzähle es gerade heraus. Ich alter Esel
verliebte mich in das Mädchen! Ich war besessen von ihr. Ich dachte nur
noch an sie." Breuer war überrascht, wie leicht - geradezu
beglückend - es war, soviel preiszugeben. "Möglich", bemerkte Nietzsche abwesend, "dass nur wer Mannes genug ist, im Weib das Weib erlösen wird." Es war eine vollkommen neue Erfahrung: Noch nie in seinem Leben hatte Breuer so viel von sich preisgegeben. Da hatte es zwar das Zwiegespräch mit Max gegeben, doch Max gegenüber war er zu sehr darauf bedacht gewesen, das Gesicht zu wahren, und hatte seine Worte sorgfältig abgewägt. Und selbst Eva Berger hatte er nicht alles preisgegeben, hatte sich über seine Zipperlein, seinen Wankelmut und seine Selbstzweifel ausgeschwiegen - alle jene Eigenschaften, die einen älteren Mann in den Augen einer anziehenden jungen Frau schwächlich oder als Spießbürger hätten erscheinen lassen können. Offenbar ungerührt von Breuers Appell, antwortete Nietzsche wie der Lehrer einem ungeduldigen Schüler: "Ich werde Sie beizeiten noch lehren, wie SIE überwinden. Sie wollen fliegen, doch man erfliegt das Fliegen nicht. Zuerst müssen Sie gehen lernen, und der erste Schritt hierzu liegt in der Erkenntnis, dass dem, welcher sich nicht selbst gehorcht, von anderen befohlen wird. Es ist leichter, weitaus leichter, anderen zu gehorchen, als sich selbst zu befehlen."
"Ja, Sie haben in allem recht, Friedrich -
bis auf Ihre hartnäckige Überzeugung, man wählte seinen Lebensweg kraft
seines Willens. Der einzelne wählt seine Lebensziele nicht bewusst; sie
sind Wechselfälle der Umstände und Zeit - oder nicht?" "Aber wer hat denn schon die Freiheit zu bestimmen! protestierte Breuer. "Niemand vermag aus der Perspektive seiner Zeit, seiner Kultur, seiner Familie herauszutreten, seiner - " "Einst", unterbrach ihn Nietzsche, "riet ein weiser jüdischer Lehrmeister seinen Jüngern, wenn sie frei werden wollten, müsse ihnen die Stunde kommen, wo sie vor ihren Liebsten flöhen. Das wäre ein Schritt würdig eines unendlich vielversprechenden Knaben! Das möchte wohl der rechte Tanz zur rechten Weise gewes4en sein." Der große Schritt vorwärts heute war der Übergang zum Vornamen. Ihm blieb regelrecht die Luft weg, als ich ihm den Vorschlag machte. Bei aller Freigeisterei ist er im Herzen Wiener: er liebt seine Titel - fast so sehr wie die Unpersönlichkeit! Erst als ich ihn mehrfach mit Vornamen ansprach, fügte er sich ins Unvermeidliche.
Ah, diese Melancholie! ... Wo ist noch ein
Meer, in dem man wirklich noch ertrinken kann! Verzeihen Sie, wenn ich ungeduldig klinge, aber es klafft ein Abgrund, ein gewaltiger Abgrund, zwischen der Erkenntnis des Intellektes und jener der Empfindung.[...] Oftmals, wenn ich nachts in Todesangst wach liege, bete ich mir Lukrez' Spruch vor: 'Solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.' Die begehrenswerteste Frau ist am meisten zu fürchten. Freilich nicht vermöge dessen, was sie ist, sondern dessen, wozu wir sie machen. Tragisch!
Eine neue Erkenntnis! Was mir Nietzsche ist,
war ich Bertha. Sie überschätzte meine Weisheit, überhöhte alles, was ich
sagte, brannte auf unsere Begegnungen, konnte sie kaum erwarten - ja,
flehte mich an, sie zweimal täglich zu besuchen!
"Das Kind" - Sebastian Fitzek - Dezember 2009 Carina klang ungewöhnlich besorgt. Früher war sie in Roberts Gegenwart immer ein Ausbund an Fröhlichkeit gewesen. Fast so, als ob sie die permanent in ihm schwelende Melancholie durch ein Übermaß an Lebenslust wieder ausgleichen wollte.
Der verborgene Garten von Kate Morton Leider kam es nur selten vor, dass ihre Mutter sich aufs Geschichtenerzählen einließ. Denn im Grunde mochte sie keine Geschichten, schon gar nicht die von Elizas heldenhaftem Vater. "Du musst lernen, zwischen Märchen und Wahrheit zu unterscheiden, Liebes", sagte sie immer wieder. "Märchen haben die Angewohnheit, zu früh zu enden. Man erfährt nie, was hinterher geschieht, nachdem der Prinz und die Prinzessin glücklich entschwunden sind.
"Aber ich sehe die Fäden. Sie sind zu einer
Schnur geflochten." Jeder Mensch wird von Dingen geprägt, die außerhalb seines Einflusses liegen, von ererbten Charakterzügen und von erlernten Eigenschaften. Was Linus prägte, war das Bein, das nicht weiter wachsen wollte. Seine Behinderung ließ ihn schüchtern werden, aus Schüchternheit begann er zu stottern, und er wuchs zu einem unausstehlichen Jungen heran, der begriffen hatte, dass er nur Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte, indem er sich schlecht benahm.
Im Herzen jedes Mannes befindet sich eine
Schwachstelle, ein Abgrund des Begehrens, und der Drang, dieses Verlangen
zu stillen, ist so übermächtig, dass er alles andere im Leben eines Mannes
überlagert.
William seufzte erneut und sagte so leise,
dass Nell sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen: "Manchmal will der
Körper Dinge, die der Verstand nicht erklären, sich nicht einmal bewusst
machen kann. Ich habe nur noch an Eliza gedacht, ich konnte nicht
anders. Es war wie, es war wie eine...." "Man lebt mit dem, was man hat, nicht mit dem, was einem fehlt. Nichts, gar nichts hatte sie gedacht, und deswegen hatte sie es getan. Denn Nachdenken bedeutete, den Farbpinsel des Zweifels in das klare Wasser der Gewissheit zu tauchen. Sie war sich ganz sicher gewesen, dass sie Ivory auf keine Fall in der Obhut von Onkel Linus und Tante Adeline zurücklassen konnte. Wenn Sie erst mal so alt sind wie ich, werden Sie feststellen, dass die Vergangenheit zu einer guten Freundin wird. Die Sorte Freundin, die ungebeten hereinschneit und nicht wieder gehen will.
Die Bücherdiebin von Markus Zusak Der eine
gibt Befehle. der andere tu, was man ihm sagt. Was, wenn der andere mehr
als ein Einzelner wäre? Dies ist nicht die rechte Zeit, um leichtfertig zu sein. Es ist nicht die rechte Zeit, um nur mit einem Auge hinzusehen, sich umzudrehen oder nebenbei nach der Milch auf dem Herd zu schauen - denn als die Bücherdiebin ihr zweites Buch stahl, spielten in diesem Verlangen nicht nur zahlreiche Faktoren eine Rolle, sondern die Tat - das Stehlen - war selbst auch Auslöser dessen was noch folgen sollte. sie würde ihr den Weg zu weiteren Diebstählen weisen. Sie sollte Hans Hubermann dazu inspirieren, sich einen Plan auszudenken, wie er einem jüdischen Faustkämpfer helfen konnte. Und es sollte mir einmal mehr beweisen, dass eine Gelegenheit geradewegs zu einer andern führt, genauso wie ein Risiko ein weiteres nach sich zieht, ein Leben ein anderes und ein Tod den nächsten. Es
stellte sich die Frage nach dem warum. Worüber war sie so wütend? Was war
in den vorangegangenen vier oder fünf Monaten geschehen, dass sich solche
Gefühle angestaut hatten? Die Kunst und Wissenschaft, die hinter dem Handwerk streckte, verschaffte Papa i Liesels Augen nur noch mehr Respekt. Es war gut und schön, wenn man zusammen aß und musizierte, aber Liesel fand es aufregend zu sehen, das ihr Papa in seinem Beruf kein Stümper war. Kompetenz macht attraktiv.
"Die Totengräberin" - Sabine Thiesler Voll Furcht
ist allezeit die Frau, "Pass auf",
sagte sie, als sie nackt in seinem Arm lag, "Ich fresse die Männer mit
Haut und Haar. Ich bin maßlos. Ich gebe mich nicht mit halben Sachen
zufrieden. Ich bin nicht die Geliebte, bei der man einmal im Monat mal
eben vorbeischaut, sich die Kleider vom Leib reißt und wieder
verschwindet. Ich verstecke mich nicht, und ich lüge nicht am Telefon. Zu
Hause sitzen, das Handy hypnotisieren und hoffen, weinen und beten ist
nichts für mich. Ich bin gierig, und ich will dich ganz oder gar nicht." Es war ja
keine Kunst, ein bisschen früher die Firma zu verlassen und dann etwas
später als gewohnt nach Hause zu kommen. Johannes war der Chef. Er konnte
kommen und gehen und tun und lassen, was er wollte. Niemand kontrollierte
ihn. Vielleicht trafen sie sich sogar mehrmals in der Woche. Nur sie
selbst hatte nichts gemerkt. Am Dienstag
nach dem Survival-Wochenende umarmte Carolina Johannes stürmisch.
"Todesschrei" - Karen Rose Gewidmet dem Andenken von Dr. Zoltan J. Ksoztolnyik, Professor emeritus für Mittelalterliche Geschichte, Texas A&M University Obwohl ich nie das Privileg hatte, seine Bekanntschaft zu machen, hatte ich sowohl die Ehre als auch das Vergnügen, die Tochter, die er aufgezogen hat, kennenzulernen. Und wie immer meinem geliebten Mann Martin. Jeden Tag bereicherst Du das Dasein deiner Schüler, in dem Du die Geschichte mit Deiner einzigartigen Kombination von Leidenschaft, Klugheit und beißendem Witz zum Leben erweckst. Ihretwegen habe ich mich vor fünfundzwanzig Jahren in Dich verliebt. Ob Du dich nun als Kleopatra verkleidest, die Unabhängigkeitserklärung mit Hilfe von 80er-Jahre-Rockvideos demonstrierst oder die Monroe-Doktrin mit dem "Badger Badger Mushroom"-Tanz erläuterst - Du sorgst dafür, dass kein Schüler, der von Dir lernt, Dich je vergessen wird. Du inspirierst mich. Ich liebe Dich.
"Warnschuss" - Sandra Brown
Sie verstummte, doch er sagte nichts. Also
fuhr sie fort: "Kannst du wirklich, beim Grab deiner Großmutter ehrlich
objektiv bleiben, wenn du sie ansiehst?" Über den nahen Hausdächern ragten die zwei Kirchtürme von ST. John the Baptist auf, als wollten auch sie ihm in Erinnerung rufen, dass ein Verstoß gegen das eigene Gewissen eine schwerwiegende Entscheidung war.
Allein der Gedanke an eine romantischen
Beziehung war ihr zuwider, da ihrer Meinung nach die Beziehung die Mühe
nicht wert sei, die es kosten würde, sie zu erhalten, und sie, falls sie
durch ein Wunder funktionieren sollte, nicht mit ihrer Arbeit zu
vereinbaren wäre.
Aber wenn er sich mehr Zeit gelassen und ihr
seine Zärtlichkeit gezeigt hätte, hätte das dann das Feuer in seiner
persönlichen Hölle gedämpft oder es zusätzlich geschürt?
"Blutmale" - Tess Gerritsen In dieser Nacht finde ich keinen Schlaf. Stattdessen liege ich wach und denke an die Lektionen, die meine Mutter mich gelehrt hat, über den Wert der Geduld, die Kunst des Abwartens. "Keine Beute bringt dir so viel Befriedigung wie die, auf die du lange warten musstest."
"Der Turm" - Uwe Tellkamp
Dresden in den Musennestern [..] und da war das Geheimnis, wieso das Ei vom Samen wusste (denn so schien es zu sein, die Eizelle schien Lock- und Steuerstoffe auszusenden, ja, sogar sich die Samenzelle auszusuchen, von der sie befruchtet werden wollte; Meno hatte in der "Nature" gelesen, dass das Prinzip "der erste mahlt zuerst" offenbar nicht einschränkungslos gültig war; die Eizelle schien ein Wörtchen einzulegen, wer für sie "der erste" war - nicht immer der lebensrobuste Holzhacker, der als Kraftkerl seinen Bohrer ansetzte, um die Eihaut zu durchdringen, manchmal schien sie ihn auch die Arbeit tun zu lassen, um den weichen Herumtreiber und Bohemien, den liebenswerten Sußmund im letzten Augenblick hereinzuziehen und dem Vierschrot die Tür vor der Nase zuzuschlagen"; da war das Geheimnis der Zusammenhänge, der Bedeutung, die sich der Sprache entzog.(S. 875) Der Verteidigungsminister, der von Berufs wegen militärisch dachte, bekam, wie es bei Männern im fortgeschrittenen Alter nicht selten ist, ein Problem an einem Ort, wo Befehle nichts nützen. Nicht vorwärts kam es, und es trieb nicht zurück. Voller Menschen war es, eine Stadt war es, man sah Häuser, Stromleitungen, die Eingeweide der Stadt. Dresden ..., seufzte es in den Lüften, Dresden ... gestrandetes Schiff, ewiggestrig, mit allen Fasern an der Vergangenheit haftend, die so schön nie war, wie du es schwärmst. Dresden... Sie haben sie, die großen Gefühle, aber sie spielen sie herunter und machen sie eher lächerlich, als sie einzugestehen; sie allzu offen zu zeigen, käme ihnen wie ein Affront vor, eine Indiskretion, eine Verletzung des unüberschreitbaren inneren Kreises. Wer die Geheimnisse benennt, verliert sie, wer mit den großen Gefühlen verschwenderisch umgeht, hat keinen Respekt davor; sie meiden Kitsch und drehen gern das Pathos leiser; sie fürchten die Ausverkaufspreise auf den Dingen, die ihnen wichtig sind. Der klopfte dem Alten vom Berge auf die Schultern, eine Geste, die zu burschikos und jovial-unehrlich gewirkt hätte, wenn nicht das Zögern vorher gewesen wäre, das um Einverständnis zu bitten und zu fragen schiene, ob er auch recht sei, dieser zurückhaltend geführte schlag auf die Schulter; nicht jeder empfand das als Auszeichnung, mancher als kumpelhaft-plumpe Vertraulichkeit, mancher vielleicht sogar als Bezeichnung "Sie beklagen sich über Misserfolg. Misserfolg macht empfindlich. Empfindlichkeit ist, neben der Herkunft, das größte Kapital eines Schriftstellers. Lassen Sie sich nicht korrumpieren." Sie vermied es zu klagen und zu fordern, war um Alltäglichkeiten und kleine Zärtlichkeiten bemüht, aber Richard spürte, dass diese Munterkeit zu betont war, und machte sich Sorgen. Er schrieb ihr, das er sie sehen wolle, an einem Donnerstag, bevor er ins Sachsenbad zum Schwimmen gehe, sie schrieb zurück, dass das nicht nötig sei, dass er recht habe, wenn er sie unbeherrscht genannt, und dass sie den Bogen überspannt habe. Sie sei zu ungeduldig und verlange zu viel von ihm, sie male zu viele Ängste an die Wand und gefährde dadurch ihre Beziehung, sorge durch ihre übertriebene Angst vor den Ängsten dafür, dass sie einträten wie bei einer "self fulfilling prophecy". Er glaubte ihr den vernünftigen Ton nicht. Josta war vieles, vernünftig war sie selten. Die Sprache dieser Briefe schien eine Plane zu sein, dünn und aus angeblich feuerfestem Material, aber darunter warteten Brände auf das Bisschen Sauerstoff, das genügen würde, aus dem verrückt schwelenden Weiß zwischen den Zeilen eine Lohe zu fachen. Tscha, früher..." Sie seufzen. Fotos werden herausgesucht. Blick von der Brühlschen Terrasse zur Frauenkirche, eine Laterne mit nadeligem Licht ind er Münzgasse. Die Beschwörungen beginne, die Dresdner Sehnsucht nach Utopie, einer Märchenstadt. Die Stadt der Nischen, der Goethe-Zitate, der Hausmusik blickt trauernd nach gestern; die leidige, ausgehöhlte Realität wird mit Träumen ergänzt: Schatten-Dresden, Schein hinter dem Sein, fließt durch dessen Poren, erzeugt Hoffmann-sche Zwitter.... ... Christian, Robert, Ezzo, Fabian, sich schon in die Schlange vor dem Kinosaal stellten, sie kannten alle diese Plakate, Belmondos Boxergesicht und die anziehende, kalte Verderbtheit in der Schönheit Alain Delons, die lauernde, bullige Korrektheit Lino Venturas, die zu Kommissaren passte, denen man früher, als sie noch keine Kommissare gewesen waren, sondern auf dem Höhepunkt biederer Verbrechen standen, ein Angebot gemacht hatte, Menschen, die das Rauchen nicht lassen können, weil sie Dinge gesehen, haben, für die ihr Scheitel, ihr Angestellten-Staubmantel, ihre Aktentasche nicht ausreichen; sie wissen es ohne Illusionen, dass die Vergangenheit sie einholen und eine Rechnung präsentieren wird; sie wissen, dass man die liegengelassenen Träume, auch wenn sie unverändert warten, auch wenn man das Jackett ausziehen, sie anfassen, nach dem Punkt suchen kann, wo man unterbrochen wurde, nicht zu Ende führen wird; Kinos, wo es Vorfilme gab und der DEFA-Augenzeuge an uns vorüberflimmerte, eine schwarzweiße Sonne, früher die UFA-Wochenschau und andere Menschen in den Kinos, zu denen die Wortschmiede sprachen, sie schienen ein Gesetz zu vertonen, diese Stimmen im Olympia-Tonbildtheater, im Capitol auf der Prager Straße, in den Stephenson - und UT_Lichtspielen, das Gesetz, dass die Welt in Freund und Feind geteilt sei auf ewig, dass es Befehl und Verrat, Sieg nd Niederlage gebe immerdar, ...(...) ich hatte das Gefühl, das die Musik ihn gleichzeitig leersog und mit der köstlichen Substanz des Vergessens füllte, die Schallplatte war eine Spindel, deren Nesselfäden ausflogen und sich mit feinen Widerhaaren in ihm festfischten, bei jeder Drehung sich haltbarer garnten und sein Inneres hinüberzogen: wohin? nach dort, nach dort... Ich fragte mich, wie es möglich war, dass ein Mensch so in der Vergangenheit leben,die Gegenwart mit einer inneren Handbewegung beiseite zu wischen vermochte - ich sah eine äußere nicht, ... (S. 362) Gar nicht gut, Eitelkeit schadet der Beobachtung und dient nicht der Wahrheit, pflegte Otto Haube zu sagen, wenn wir mikroskopierten. Christian erinnerte sich an einen anderen Tag, den er nicht vergessen würde. Es war einer der letzten Ferientage vor seinem Eintritt i die Erweiterte Oberschule gewesen. Sein Vater hatte Erik Orré mitgebracht, Tietzes Nachbar und Gudruns Kollege am Dresdner Großen Haus. Er war Richards Patient gewesen und nun gekommen, seinen Dank auf ungewöhnliche Weise abzustatten, nämlich Christian und Robert die Kunst des sach- und fachgerechten Lügens beizubringen, die Richard vor allem für Christian für notwendig hielt, und so hatte der Mime mit ihnen - und auf Niklas' Bitten auch mit Ezzo - vor dem aus dem Flur herbeigeschafften Spiegel das enthusiastische Loben geprobt, ihre Gestik korrigiert, ihnen gezeigt, wie man willentlich rot und blass werden kann, wie man mit einiger Würde schmeichelt, mit ernstester Miene Torheiten sagen und diese wie eine Tarnkappe über seine wahren Gedanken ziehen kann, wie man Komplimente drischt, die leer sind, aber intelligent schmeicheln, wie man Misstrauen zerstreuen kann, wie man selbst andere Lügner, unter Umständen, erkennt.
Gedanken sind ohne Konsequenzen; man kann
damit spielen wie Kinder mit Klötzchen, und wenn man mit diesen Klötzchen
ein Haus baut, das einem nicht gefällt, so verändert man es eben. [...]
Man kann das Haus nach Belieben verändern, und ohne Folgen." "Das sagst du aus Bescheidenheit, stimmt's? Ihr Hoffmanns neigt ja zum Niedrighalten. Gut so. Wer schwach beginnt, kann stark nachlassen. "Meine Damen, wenn Sie wüssten, wie gerne wir Sie unter uns haben, und dass es unser höchstes Vergnügen ist, in Ihrer Mitte zu weilen" Er war der einzige Gutachter, der seine Gutachten - ausführliche Eiskunstlaufküren mit einem gewissen Anteil eingestreuter Schnittblumen - noch mit der Hand schrieb. Die Handschrift war schwungvoll und gestochen wie in Kanzleibriefen aus dem 19. Jahrhundert. In den Verlagsakten nahmen sie sich seltsam aus, wie Treibgut aus einer verschollenen Zeit, und Meno hatte, wenn er Albert Salomons Gutachten las, den gewundenen, vor Direktheiten zurückschreckenden Stil, das gleiche Empfinden wie bei Vorkriegstelegrammen, die er bei Malthakus sah, mühsam beschaffte und gegen erhebliche Widerstände zusammengefügt wirkende Zeilen, die das Bedürfnis weckten, eine Essay über den Reiz des Gerade-noch zu schreiben; es musste etwas mit Rettung zu tun haben, einem angeborenen Schutztrieb, der ein solches, aus einer Zeitgruft gerettetes Schriftstück wertvoller erscheinen ließ als die modernen, glatten Nachrichten, die den Eindruck vermittelten, dass weder ihre Herstellung noch ihre Verbreitung Mühe kostete. Teetrinker sind meist gute Gesprächspartner. Intelligente Mörder sind sie außerdem, und meist haben sie etwas zu sagen. Ich brauche das für eins meiner Stücke, müssen Sie wissen. Ist es nicht viel wirkungsvoller, wenn ein Folterknecht an einer Teetasse nippt, als wenn er bloß ein Bierchen kippt? Einst war Deutschland die Apotheke der Welt gewesen, und Dresden die Wiege der Pharmakologie. Das Arzneimittelwerk, hervorgegangen aus den Firmen Madaus, Gehe und der Chemischen Fabrik von Heyden, in der die Acetylsalicylsäure-Grundstoff für Aspirin, das meistverkaufte Medikament der Welt - erstmalig industriell hergestellt worden war, hatte seinen Hauptstandort in der Leipziger Straße, in der ehemaligen Drogen- und Appreturanstalt der Firma Gehe.
"Judith, komm doch mit! Es wird eine
großartige Zeit sein. Wir werden Geschichte schreiben..."
"Kalte Asche" - Simon Beckett
Bei entsprechender Temperatur brennt alles.
Holz. Kleidung, Menschen
Mein Vater hat immer gesagt, dass man gerade
auf die Dinge achten muss, die man nicht kommen sieht. - Er grinste
schwach. "Ich dachte er redet Unsinn, aber jetzt weiß ich, was er meinte.
Man glaubt, dass man alles bedacht hat und dass man die Kontrolle über
sein Leben hat, und dann - rums! Plötzlich wird man von einer Sache
überrumpelt, mit der man nie gerechnet hat." Drei Uhr morgens, ist eine tote Zeit. Man ist dann auf dem Tiefpunkt, körperlich und mental. Man ist so wehrlos wie sonst nie, und der verheißungsvolle Morgen kommt einem unendlich weit weg vor. Die schlimmsten Fantasien und die dunkelsten Ängste scheinen wahr zu werden. Normalerweise ist das nur ein Gemütszustand, ein biorhythmisches Loch, aus dem wir mit dem ersten, schwachen Tageslicht wieder herausfinden. - Normalerweise.
"Okay, aber... warum sollte sich Strachan mit
einer billigen Nutte wie Donaldson abgeben, wenn er so eine [hübsche,
sinnliche] Frau hat?" Späte Einsicht ist der grausamste Genuss. Wir hatten recht gehabt und dennoch schrecklich falsch gelegen. "Nicht auf alles gibt es Antworten, egal, wie sehr wir sie auch suchen. Manchmal muss man lernen, die Dinge einfach auf sich beruhen zu lassen."
"Die Chemie des Todes" - Simon Beckett Aber wie alles in der Natur haben auch die Fliegen ihre Aufgabe. so abstoßend es sein mag, sie spielen eine wichtige Rolle bei der Zersetzung von organischer Materie. Sie helfen, den Prozess der Auflösung zu beschleunigen und die toten Lebewesen wieder in die Rohstoffe zurückzuführen, aus denen sie zusammengesetzt sind. Sie sind das Recyclingsystem der Natur. Und als solches besitzen sie eine gewisse Eleganz ind er unbeirrbaren Hingabe na ihre Aufgabe. Weit davon entfernt, im Kreislauf der Natur sinnlos zu sein, sind sie wichtiger als der Kolibri oder das Reh, von dem sie sich eines Tages ernähren werden. Und aus der forensischen perspektive sind Fliegen nicht nur ein unvermeidliches Übel, sondern unschätzbarem Wert. Der Tod hatte seine üblichen grauenhaften Veränderungen herbeigeführt, eine umgekehrte Alchemie, die das Gold des Lebens in eine unedle und stinkende Materie verwandelte. Doch obwohl einige wenige hinter vorgehaltener Hand über die Bereitwilligkeit murrten, mit der er seine zweifelhaften Ansichten aller Welt mitteilte, erhielt unser guter Herr Pfarrer immer mehr Zulauf. Seine Stimme donnerte mit der Entrüstung, die ein jeder empfand, und was seine Reden an Sinn und Verstand vermissen ließen, machte er durch Leidenschaft und Lautstärke mehr als wett.
"Erinnerung an einen Mörder" - Petra Hammesfahr Lieblich
war die Maiennacht, Der Mann [Hollywood-Regiseur] hatte mal seinen Schwanz in eine bereitwillige Frau gesteckt und geglaubt, ihr ein unvergleichliches Erlebnis zu bescheren. Vermutlich hatte er sich fünf Minuten später schon nicht mehr an ihr Gesicht erinnert, weil sich vor seiner Tür noch ein paar andere Hoffnungen auf eine Rolle machten und bereit waren, ihm dafür diverse Körperteile zur gefälligen Nutzung hinzuhalten…. Seite 204
Biss zur Mittagsstunde Stephanie Meier Liebe ist irrational, dachte ich wieder. Je mehr man jemanden liebte, desto unlogischer wurde alles. Seite 339,
"Doch die Sünde ist scharlachrot" - Elizabeth George Bei seinem Aufbruch war das einzige Anzeichen wiedererwachenden Lebens der gelbe Schleier der Ginsterknospen gewesen, die sporadisch oben auf den Klippen sprossen. Inzwischen hatte sich dort ein wahres Farbenmeer ausgebreitet, und hier und da rankte Angelika um die geraden Stämme der Hecken. Nicht mehr lange, und auch der Fingerhut würde die Straßenränder säumen und Breitwegerich seine feurigen Köpfe aus den Bruchsteinmauern recken, die in diesem Teil der Welt die Felder begrenzten. doch so weit war es noch nicht, und all diese Tage, die sich zu Wochen aufgereiht hatten, war er in dem Bemühen gewandert, nicht vorauszublicken, geschweige denn an die Vergangenheit zu denken. Der April war bislang so unbeständig gewesen, wie sein Ruf besagte, und auch wenn der Mai in Cornwall oft sonnig war, konnte der Juni ein meteorologischer Albtraum sein. Daidre überlegte, wo sie sich neue Wisch´blätter würde besorgen können. So musste sie nicht darüber nachdenken, dass sie hier, am Ende ihrer Reise gen Süden, rein gar nichts fühlte: weder Entsetzen noch Verwirrung, Wut, Unmut oder Mitgefühl - und nicht einen Funken Trauer. Letzteres machte ihr inzwischen nicht einmal mehr Sorgen. Wer könnte ernstlich erwarten, dass sie Trauer empfand? Aber der Rest... So gänzlich emotionslos zu sein - wo doch wenigstens ein Mindestmaß an Gefühl angemessen gewesen wäre - , gab ihr zu denken. Zum einen erinnerte es sie an das, was sie zu oft von zu vielen Liebhabern gehört hatte. Zum anderen deutete es auf einen Rückschritt zu ebenjenem Selbst hin, das sie längst überwunden zu haben glaubte. Ben starrte ihn an; seine Augen brannten. Der Constable war jung, vermutlich keine fünfundzwanzig. Der denkt wohl, er kennt die Welt, aber er hat keine Vorstellung - nicht den Schimmer einer Ahnung, was dort draußen alles vor sich geht und was alles passieren kann. Er weiß nicht, dass es keine Möglichkeit gibt, sich vorzubereiten oder Kontrolle auszuüben. Das Leben kommt im gestreckten Galopp auf einen zu, und dann hat man zwei Möglichkeiten; aufspringen oder niedergeritten werden. Und wenn man versucht, einen Mittelweg zu finden, dann geht man unter.
"Was ist los?", fragte Cadan. Damit ging er hinaus, und sie ließ sich durch den Kopf gehen, was er gesagt hatte. Nur Tieren konnte man gefahrlos seine Hingabe schenken, schloss sie.
"Sie müssen mir nicht Rechenschaft ablegen",
versicherte sie. "Ich bin nur froh, dass das Geld gereicht hat." Lynley bemerkte, wie sie das letzte Wort in die Länge zog, und er wusste, es würde auch Hannaford nicht entgangen sein. Eine Antwort in dieser Weise herauszuzögern, bedeutete in der regel, dass der Befragte im Geiste durch verschiedene Reifen sprang. Welcher Art diese Reifen warn und warum sie existierten... Hannaford würde es herausfinden wollen.
Cadan schauderte. Er sage leise: "Madlyns
Reaktion auf die Sache mit ihr und Santo war vielleicht ein bisschen
extrem. Das geb' ich ja zu." Das durfte sie nicht vergessen. Und sie musste sich in seiner Nähe vorsehen, ganz gleich wie groß sein Schmerz sein mochte oder ihr Drang, diesen Schmerz zu lindern. Jeder trug Schmerz in sich, das wusste sie. Damit fertig zu werden, das war es, worum es im Leben ging. Der Wind und die Wellen machten das Sprechen schwierig, genau wie die Tatsache, dass sie hintereinander gingen, also sagte Daidre nichts, und auch Thomas Lynley schwieg. Es war besser so, befand Daidre. Einen Augenblick kommentarlos verstreichen zu lassen, war manchmal eine heilsamere Methode, als an eine frische Wunde zu rühren.
Manchmal frage ich mich, wer all die Menschen
waren, die sich so vertrauensvoll zusammengeschlossen haben. Und war ihre
Liebe von Dauer? Das frage ich mich auch." Als Jago lächelte, entblößte er Zähne, die viel gearbeitet, aber wenig Wartung erfahren hatten. "Sie haben es aber auch nicht leicht. Verbring eine Viertelstunde mit ihnen und das Letzte, was du zurück willst, ist deine Jugend. Trauma und Tränen, ich sag's dir..."
"Das heißt, Sie haben ein Herz für die
Tierwelt." Er fragte sich, ob er nach all diesen Jahren noch den richtigen Moment erkennen würde: das Zusammentreffen von Form, Kraft und Krümmung, das dem Surfer bedeutete, dass es Zeit war aufzuspringen. Aber manche Dinge gingen einem in Fleisch und Blut über, und er stellte fest, eine Welle zu nehmen gehörte dazu. Wahrnehmung und Erfahrung verbanden sich zu Fertigkeit, und die hatte die Zeit ihm nicht nehmen können. Sie hätten die ganze Nacht durchspielen können, und Daidre hätte wahrscheinlich immer weiter gewonnen. Und diese kleine Teufelin - denn als solche betrachtete er sie inzwischen - entpuppte sich nicht nur als Turnierspielerin, sondern ebenso als die Art Frau, die nicht daran glaubte, dass das Ego eines Mannes hin und wieder den Balsam der unangefochtenen Überlegenheit über das andere Geschlecht verdiente.
Ich weiß, ich hätte das vermutlich nicht tun
sollen. Nachher war mir das klar, aber da war das Kind schon in den
Brunnen gefallen. Da konnte ich's ja nicht mehr rausfischen..."
Interessant", bemerkte Bea.
"Also," Sie stemmte die Hände in die
Seiten."was darf's sein, Cadan?"
"Tut mir leid", fügte sie leise hinzu. "Ich
übertreibe ein bisschen. Aber es ist so schrecklich, wenn man miterleben
muss, wie Leute ihren gesunden Menschenverstand ausschalten, sobald sie in
eine Krise geraten. Wenn Sie wissen, was ich meine." Ganz offensichtlich war es höchste Zeit für einen neuen Internetflirt. Wenn sie doch nur die Zeit fände, die es brauchte, um zu fischen, zu wählen, zu kontaktieren, zu entscheiden, ob das entsprechende Individuum einen Abend wert war, und diesen Abend dann auch noch freizuschaufeln! Und dann... Was hätte sie denn davon? Mit wie vielen Fröschen sollte sie denn noch essen, ein Glas Wein oder eine Tasse Kaffee trinken gehen, bis sie einen fand, der Prinzen - und nicht nur amphibische Qualitäten ahnen ließ? Doch der Anblick seines Vaters hatte die Dinge für Ben schlagartig in ein anders Licht gerückt. so alt, dachte er. So schrecklich alt. Und gebrochen. Er fragte sich, wie er bis heute die Augen davor hatte verschließen können, dass das leben seinen Vater längst besiegt hatte. Eddie Kerne war mit den Fäusten gegen dieses Leben angegangen und hatte sich geweigert, sich seinen Anforderungen zu unterwerfen. den Kompromissen und Veränderungen. Das Leben zu seinen Bedingungen anzunehmen, setzte die Fähigkeit voraus, bei Bedarf den eigenen Kurs zu wechseln, Verhaltensweisen zu modifizieren und Träume der Realität anzupassen, gegen die sie bestehen mussten. Doch Eddie war dazu nie in der Lage gewesen, und darum war er zermürbt worden. Das Leben war über seinen zerbrochenen Körper hinweggespült.
"Nein. Danke." Sie wollte ihm nicht zu Dank
verpflichtet sein, nicht einmal in solch einer nichtigen Sache. Dellen erwähnte er mit keinem Wort. Sie war heute mehr denn je diejenige, die sie immer schon gewesen war, wenn die Dinge schwierig wurden: die Unaussprechliche. Schon der Gedanke an sie ließ alle in stumme Beklemmung verfallen. Dellen war wie ein übelriechendes totes Tier im Wohnzimmer: unmöglich zu ignorieren und doch zu peinlich, um Erwähnung zu finden.
"Aber Menschen ändern sich." Heute, ging ihm auf, als er sich auf die Bank setzte, um zu warten, hatte er bis auf ein paar Minuten beim Aufwachen noch kein einziges Mal an Helen gedacht, und diese Erkenntnis drängte ihren Tod wie einen frischen Schmerz zurück in sein Bewusstsein. Es war ihm nicht recht, dass er nicht täglich, stündlich an sie dachte, wenngleich ihm klar war: In der Gegenwart zu existieren, würde bedeuten, dass Helen weiter und weiter in seine Vergangenheit entschwand, während er selbst sich vorwärtsbewegte. Doch es verletzte ihn, das zu denken. Geliebte Frau. Ersehnter Sohn. Beide waren fort, und eines Tages würde er es überwinden. Obwohl er wusste, dass dies der Lauf der Dinge, dass so das Leben war, erschien ihm die Tatsache, dass er irgendwann darüber hinwegkommen würde, ebenso unerträglich wie obszön.
"Um zusammen zu sein", sagte Aldara mit
Bestimmtheit. "Für eine Stunde. Zwei oder drei zu Anfang, als es noch neu
für uns war und wir noch... in der Entdeckungsphase waren, könnte man wohl
sagen." Aber vor allem, weil Heimlichkeit der Schlüssel zur Erregung ist und Erregung die Voraussetzung für das Feuer." "Nein. Er wäre niemals fähig..." Doch dann zauderte sie erneut. es war offensichtlich, dass sie in ihrem hübschen Kopf verschiedene Szenarien durchspielte. Ihr blick trübte sich. er schien zu sagen, dass sie genau wusste: Er war sehr wohl fähig.
"Bindungen scheinen sie nicht zu
interessieren. sie scheint sie nicht einmal ansatzweise zu brauchen" "Das erspart einem jedenfalls dieses ewige Männlich-Weiblich-Theater mit all seinen Missverständnissen und destruktiven Tendenzen. Aber ich glaube, letztlich läuft alles auf Bindung hinaus. Dieses Problem, das wir mit Männern zu haben scheinen. Frauen binden sich, Männer nicht. Das ist biologisch begründet, und wir wären vermutlich besser dran, wenn wir es fertig brächten, in Herden oder Rudeln oder so zu leben. Ein Männchen, das an einem Dutzend Weibchen herumschnüffelt, und die Weibchen akzeptieren das als Normalität."
"Nachdem Sie sie ins Bett gekriegt hatten"?,
fragte Havers. Alles, was nötig war, sagte er, sei eine ehrliche Aussprache, in deren Verlauf Fehler eingeräumt, Entschuldigungen ausgesprochen und Besserung gelobt wurden. "Aber es ist noch schlimmer, wenn man einen Sohn verliert", sagte Jago Reeth zu Ben Kerne. "Anders als eine Tochter trägt der Sohn den Namen weiter. Er ist das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und letzten Endes ist es weit mehr als nur der Name. Er trägt den Sinn von allem in sich.
Jago Reeths Keuchen verstummte. Der alte Mann
hielt den Atem an, während er offensichtlich zu entscheiden versuchte, ob
er glauben sollte, was Ben ihm gerade eröffnet hatte. Ben Kerne jedoch war
es gleichgültig geworden,w as irgendwer glaube. Und endlich war ihm ebenso
gleichgültig geworden, dass Santo nicht sein liebliches Kind gewesen war.
Denn er erkannte, dass sie Vater und Sohn gewesen waren - auf die einzige
Weise, die zwischen einem Mann und einem Jungen von Bedeutung war, die von
gemeinsamer Geschichte und Erfahrung bestimmt war und nicht von einem
blind herumschwimmenden Samen, der durch puren Zufall mit einer Eizelle
verschmolz. Darum waren seine Versäumnisse genauso schwerwiegend, wie es
die eines leiblichen Vaters einem Sohn gegenüber gewesen wären. Denn er
hatte seine väterlichen Entscheidungen aus Angst getroffen, nicht aus
Liebe, hatte stets darauf gewartet, das Santos wahre Abstammung sich
manifestierte. Nachdem sie beide dem Teenageralter entwachsen waren, hatte
Ben nie auch nur einen einzigen der Liebhaber seiner Frau gekannt. Er
hatte lediglich auf Dellens abscheulichste Charaktereigenschaften in Santo
lauern könne, und sobald sich irgendetwas auch nur entfernt Dellen-Artiges
zeigte, hatte Ben all seine Aufmerksamkeit und Leidenschaft darauf
konzentriert. Er selbst hatte Santo im Ebenbild seiner Mutter erschaffen,
weil er jedem Wesenszug des Jungen, der ihren zu gleichen schien, so
übergroße Beachtung geschenkt hatte.
Sie kennen mich überhaupt nicht, wollte er
ihr sagen. Sie wissen nicht, wer ich bin, mit welchen Menschen ich mich
umgebe, welche Beziehungen mein Leben definiert haben. Aber wie sollte sie
auch? Zeitungsberichte - Boulevardblätter, Hochglanzmagazine oder was auch
immer - erzählten eben nur die dramatischen, herzzerreißenden oder
schlüpfrigen Episoden. Jene Bestandteile des Lebens, die aus den kostbaren
und unvergesslichen alltäglichen Episoden bestanden, kamen darin nicht
vor. sie bargen nicht genug Dramatik, selbst wenn es letztlich sie waren,
die bestimmten, wer man war.
"Leichenraub" - Tess Gerritsen Julia betrachtete den Stapel ungeöffneter Kartons und dachte an die ungehobenen Schätze, die darin verborgen lagen, all die Briefe, die es noch zu lesen galt. Sie wusste nicht, ob die Kartons die Antwort auf die Frage nach der Identität der Gebeine aus ihrem Garten enthielten. Was sie aber wusste, war, dass die Geschichte von Norris Marshall und dem West End Reaper sie schon jetzt in ihren Bann geschlagen hatte und dass sie begierig war, mehr zu erfahren. Wenn die Liebe einer Mutter allein ein Kind retten könnte, dann gäbe es keine stärkere Medizin als die, welche Eliza ihrem Sohn jetzt mit jedem unruhigen Schritt, mit jedem bangen Seufzer verabreichte.
"Hast du sie geliebt?" Isaac blickte mit
feuchten Augen zu Norris auf. "Als ob das einen Unterschiedgemacht hätte!
Es war nicht genug, um sie hier zu halten. Du warst nicht genug, um sie
hier zu halten."
Ende Gut - alles gut! |
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